Könnte ein Atomunfall auch hierzulande geschehen? Ausgeschlossen ist dies nicht. Verlängerte Betriebszeiten, wie kürzlich in Frankreich, machen alte Anlagen anfälliger. Gerd Rosenkranz, Gründer der „Republik Freies Wendland" gegen die Endlagerung, und Christian Küppers vom Öko-Institut über die deutschen Konsequenzen aus dem Aus für die Atomkraft.
Es war Leichtsinn, aber auch ökonomisches Kalkül, das Atomkraftwerk Fukushima unmittelbar an die Küste zu bauen. So sparte man sich die Kühltürme. Und es war wenig überraschend, als vor fast genau zehn Jahren in der Region die Erde bebte – denn das ist in Japan buchstäblich an der Tagesordnung. Dass sich das Reaktorunglück zu einer Katastrophe ausweitete, lag an der außergewöhnlichen Stärke und dem Tsunami, den das Beben auslöste. Das Wasser überschwemmte große Teile des Reaktorkomplexes, legte die elektrischen Anlagen lahm und stoppte die Notkühlpumpen, die Reaktorkerne dreier Blöcke konnten nicht mehr gekühlt werden und überhitzten, es entwickelte sich Wasserstoff in großen Mengen, der wiederum mehrere verheerende Explosionen auslöste, die die Reaktorhüllen zerstörten.
Hätte in Deutschland etwas Ähnliches passieren können? Die Frage beantwortet Gerd Rosenkranz mit dem Hinweis auf das Schicksal des Atomkraftwerks Mülheim-Kärlich. „Das wurde nach nur 100 Tagen im Regelbetrieb wieder abgeschaltet, weil am Ende das Bundesverwaltungsgericht Kernkraftgegnern Recht gab, die gegen das Kraftwerk geklagt hatten, weil es auf einer Erdbebenkante und anders gebaut wurde als es genehmigt war."
Ausgeschlossen ist es nicht, dass ein GAU auch hier in der Nähe passiert. Christian Küppers vom Öko-Institut Freiburg verweist auf die Stresstests, die nach 2011 in allen Anlagen durchgeführt wurden. Geprüft werden sollte vor allem, ob das Kraftwerk noch beherrschbar sei, wenn durch Naturkatastrophen ganze Systeme ausfallen. Cyber- oder Terrorangriffe ließ man außer acht. Bei den deutschen AKW stellen sich die Mängel heraus, die schon zum Ausstiegsgesetz von 2001 geführt hatten. Dieses Gesetz hatte die Bundesregierung mit dem Beschluss zur Laufzeitverlängerung 2010 gekippt, aber dann kam Fukushima, und das änderte alles.
Notfallschutz wurde ausgeweitet
Anlässlich einer Schadensbilanz zehn Jahre nach der japanischen Kernschmelze hat das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS), in Deutschland für Reaktorunfälle zuständig, berichtet, dass mittlerweile der Notfallschutz neu aufgestellt worden sei. Der Radius um die einzelnen Reaktoren für Schutzmaßnahmen wurde deutlich erweitert. Statt die Anwohner in einem Umkreis von zehn Kilometern zu evakuieren, gilt nun ein Radius von 20 Kilometern. Außerdem wurden die Bestände an Jodtabletten für Kinder, Schwangere und Ältere aufgestockt. Die Medikamente sollen die Anreicherung krebsauslösender radioaktiver Stoffe in der Schilddrüse vermeiden. Zudem wurde ein zentrales radiologisches Lagezentrum eingerichtet. Dort werden beispielsweise mithilfe von Wetterdaten von einer Atomkatastrophe betroffene Regionen prognostiziert. Denn wenn ein Reaktor explodiert, kommt es entscheidend darauf an, in welche Richtung zufällig gerade der Wind weht. In Japan wehte er günstig, weswegen es nicht zu dramatischen unmittelbaren Gesundheitsfolgen für die Bewohner der Region kam. Rosenkranz: „Ein Jahr nach dem Unfall gab die Regierung zu, dass die Evakuierung Tokios, in dessen Großraum 35 Millionen Menschen leben, erwogen wurde, wenn sich der Wind gedreht hätte." Sechs AKW sind in Deutschland noch in Betrieb, allesamt 35 Jahre alt und älter. Die belgischen Kraftwerke Tihange und Doel sind noch einmal zehn Jahre älter, Fessenheim im Elsass wurde 2020 nach 42 Jahren Betriebszeit stillgelegt. Ursprünglich waren die ersten kommerziellen Reaktoren meist auf eine Laufzeit von 25 Jahren angelegt. „Die lange Betriebszeit macht sie nicht sicherer", sagt Rosenkranz. „Das Material ermüdet, die Technologie von damals ist überholt, die Werkstoffe insbesondere in unmittelbarer Nähe des Reaktorkerns entwickeln Risse. Störfälle werden mit dem Alter häufiger." Risikoreich sei auch, dass langjährige Mitarbeiter, die die Altanlagen in allen Details kannten, inzwischen ausgeschieden sind und die Dokumentationen nicht immer mit der Realität übereinstimmen. Dennoch seien – sagt Rosenkranz einschränkend – die wirklich dramatischen Unfälle bisher nicht auf „Altersschwäche" zurückzuführen gewesen, sondern auf Umstände, mit denen niemand gerechnet hat: die Flutwelle in Japan, die alle Stromzufuhr unterbrach; in Tschernobyl, als die Ingenieure Experimente in einen kritischen Reaktorzustand fuhren, sodass sie die Kettenreaktion am Ende nicht mehr beherrschen konnten; in Harrisburg (USA) eine Verkettung menschlicher Fehler und Fehleinschätzungen.
Zwar habe die Atomindustrie verbal immer die Parole „Sicherheit geht vor Wirtschaftlichkeit" hochgehalten, diese aber, wenn es darauf angekommen sei, nicht immer eingehalten. Ein Beispiel aus Deutschland sei eine Wasserstoffexplosion im Kernkraftwerk Brunsbüttel Ende 2001, als die Betreiber den Reaktor nach der Detonation weiterlaufen ließen, ohne die Ursache (die vollständige Zerstörung eines Rohrs) zu erkunden. Man wollte es lieber nicht so genau wissen. Es war Winter, der Reaktor lief mit voller Last und man verdiente gutes Geld. Aufklärung hätte monatelangen Stillstand bedeutet.
Grundsätzlich – so Rosenkranz – bleibe es dabei, dass die Systeme, die ein Atomkraftwerk steuern, zu komplex sind, als dass eine hundertprozentige Sicherheit erreicht werden kann. Dass es damit in Deutschland Ende 2022 vorbei sei, ist für ihn als Experten, der die Gefahren noch besser kennt als ein Laie, eine große Erleichterung. „Auch wenn die Kosten für den Rückbau der alten Reaktoren teilweise höher sind als die für die Errichtung", meint er. Bei einem Reaktor, der Jahrzehnte in Betriebe gewesen sei, seien alle Konstruktionselemente, die nahe am Reaktorkern oder in den Kühlsystemen eingesetzt waren, selbst radioaktiv oder verunreinigt durch Strahlung. Ein AKW müsse man sich vorstellen als eine riesige Industrieanlage, Der Aufwand, so etwas abzubauen, potenziere sich dadurch, dass man alles unter Strahlenschutzbedingungen machen müsse. „So einen Reaktordruckbehälter kann man nicht transportieren, der muss mit speziell konstruierten Maschinen unter Wasser zersägt werden." Die Deutschen waren die ersten, die angefangen haben, Atomkraftwerke bis zur „grünen Wiese" abzubauen, erinnert sich Rosenkranz. „In großem Stil begann das in der ehemaligen DDR, 1990 nach der Wende. Man begann in Rheinsberg in Brandenburg und in Lubmin bei Greifswald an der Ostseeküste." Er sei als „Spiegel"-Reporter damals selbst vor Ort gewesen. „Die Deutschen hofften, dass sie mit dem in Lubmin erworbenen Knowhow kommerziell einen großen Erfolg verbuchen könnten, weil in Osteuropa und in der damaligen Sowjetunion noch viele andere Reaktoren dieser sowjetischen Bauart stillgelegt werden sollten." Es kam anders. Die Behörden entschieden sich, die ausgemusterten Reaktoren vorerst nicht abzubauen, sondern einfach einzumauern, bis nach Jahrzenten die Strahlung schwächer geworden sei. Ob sie dann wieder geöffnet und tatsächlich abgebaut würden, bleibe offen.
In Lubmin entstehen heute Windräder
In Deutschland werde dagegen voraussichtlich alles abgebaut, auch wenn dies Jahrzehnte in Anspruch nehme. In Lubmin lagern nach Angaben der Entsorgungswerke für Nuklearanlagen (EWN) 1,8 Millionen Tonnen Material, die auf der Anlage von Strahlung verseucht wurden und gereinigt werden müssen. Nach Plänen der EWN, die seit 1995 die Stilllegung des AKW betreiben, sollen nur zwei Prozent des ursprünglichen und zur Reinigung benötigten Materials irgendwann in einem Endlager landen. Der Rest wird weiterverkauft und recycelt, zum Beispiel im Straßenbau, sofern der Strahlenwert der Freimessgrenze entspricht. 2028 soll die Dekontamination beendet sein. Den Abbau der in Westdeutschland bereits stillgelegten AKW zahlen die Konzerne E.on, EnBW, RWE und Vattenfall selbst. Küppers, dessen Öko-Institut den Abbau begleitet, verweist darauf, dass die Standorte der ehemaligen AKW gern genutzt werden, wenn sie strahlungsfrei sind. In den leer geräumten Hallen in Lubmin werden Rotoren für Windkraftwerke gebaut. In Obrigheim entstand direkt neben dem alten Kraftwerk ein Biokraftwerk, und in Philippsburg wird der Gleichstrom, den die Überlandleitungen aus dem Norden herbeiführen, in einem Umspannwerk in Wechselstrom umgewandelt.
Und der Kohleausstieg? Der gesetzliche Ausstieg, den die große Koalition schließlich zur Umsetzung der Empfehlungen der Kohlekommission beschlossen hat, sei insgesamt zu teuer erkauft, sagt Rosenkranz. Das habe auch damit zu tun, dass zu der Zeit, als der Ausstieg ausgehandelt worden sei, die Kassen des Staates prall gefüllt waren. „Man hat den Gewerkschaften und auch den betroffenen Bundesländern ihren Widerstand abgekauft." Im Fall der Steinkohlekraftwerke werde die Abschaltreihenfolge über Ausschreibungen festgelegt: Die Steinkohlekraftwerke werden zuerst abgeschaltet, die am wenigsten Ausgleichzahlungen verlangen.
Weil aber die Preise für Emissions-Zertifikate für CO2 nach den jüngsten Klimaschutzbeschlüssen der EU erheblich anstiegen, wurde Strom aus Kohlekraftwerken teurer. Die Folge: Die Betreiber saßen auf Kraftwerken, die kein oder kaum mehr Geld verdienten. Gaskraftwerke, die weniger CO2 ausstoßen, kamen stattdessen zum Zug. Also wollten die Betreiber ihre Anlagen schneller loswerden und boten sie günstig zur Stilllegung an. Die Folge: Der Ausstieg könnte sich schneller vollziehen als in der Kohlekommission vereinbart.
Agora Energiewende hatte bereits 2016 einen ersten Ausstiegsfahrplan bis 2035 vorgelegt. Inzwischen gehe man fest davon aus, dass der Ausstieg schon um 2030 vollzogen werde, um die inzwischen in der EU und in Deutschland verschärften Klimaschutzziele zu erreichen.
Hat man aus dem Atomkraft-Ausstieg gelernt? Nur teilweise, meint Rosenkranz. Die Situation sei in vielerlei Hinsicht anders, aber bei den Langfristkosten – vor allem dem Rückbau der Braunkohletagebaue – müsse sich noch herausstellen, ob die von den Betreibern gebildeten Rücklagen ausreichen oder ein Teil der Kosten doch wieder beim Staat und letztlich den Steuerzahlern lande.