Julius van de Laar war der einzige Deutsche unter den Hunderten Wahlkämpfern für Barack Obama. Hierzulande stellt er eine Amerikanisierung des Wahlkampfs fest. Heute ist er als Strategieberater tätig und erklärt, was das genau bedeutet und weshalb 2021 ein besonderes Wahljahr ist.
Herr van de Laar, 2008 waren Sie im Wahlkampfteam des früheren US-Präsidenten Barack Obama. Als Wahlkämpfer der Demokraten haben Sie damals auch Joe Biden persönlich kennengelernt. Wie haben Sie den neuen US-Präsidenten in Erinnerung?
Ich habe Joe Biden während der Präsidentschaftskampagnen 2008 und 2012 als den „Happy Warrior" kennengelernt, der mit Charisma, Energie und Einfühlungsvermögen durch die Swing-States reiste, um dort die letzten unentschlossenen Wähler zu mobilisieren. Joe Biden war immer der moderate Politiker, der Pragmatiker. Als Senator hat er sich oft zu den republikanischen Kollegen gesetzt. Außerdem ist er ein Mensch, der sich in andere hineinfühlen kann. Er ist tatsächlich einer der empathischsten Politiker, die es gibt. Man muss sich nur das Youtube-Video ansehen, auf dem Biden einem stotternden Jungen Mut zuspricht. Wer das sieht, spürt etwas. Und für ein Land, das gerade so viel Leid erlebt wie die USA in der Corona-Krise – über 500.000 Tote, Familien, die nicht wissen, wie es wirtschaftlich für sie weitergehen soll – ist ein Mann, der selbst so viel Leid erlebt hat wie Biden, gerade genau der Richtige. Zudem ist Joe Biden jemand, der seine politischen Kämpfe bereits gekämpft hat. Er muss sich selbst nichts mehr beweisen, er hatte bereits jedes Amt inne. Dazu kommt, dass er kein Ideologe ist. Deswegen ist er der richtige Präsident für diesen Moment.
Noch immer sind die Bilder vom Sturm aufs Kapitol in unseren Köpfen – zuletzt auch die neuen Videos, die von den Demokraten während des Amtsenthebungsverfahrens gezeigt wurden. Hätten Sie als jemand, der die USA und die Politik dort kennt, das für möglich gehalten?
Wenn man die Bilder sieht, erschüttert das einen. Aber wirklich überrascht hat es mich nicht. Trump hatte ja immer wieder während des Wahlkampfs und auch in seiner Amtszeit seine Unterstützer aufgeheizt, zuletzt die Proud Boys mit „Stand by".
Denken Sie, dass eine solche Entwicklung auch in Deutschland möglich wäre?
Prinzipiell ist das überall vorstellbar. Wir sind glücklicherweise noch weit entfernt von den amerikanischen Zuständen. Wenn es in Deutschland hart auf hart kommt, dann steht die Große Koalition zusammen und es gibt ihn, den „Bipartisanship" – also überparteilichen Konsens. So etwas sehen wir in den USA nicht. Der Obstruktionismus insbesondere der Republikanischen Partei ist extrem. Das sehe ich in Deutschland in der Breite nicht.
Schützt uns das deutsche Wahlrecht vor amerikanischen Verhältnissen?
Ja, das Wahlrecht in Deutschland schützt uns: Hier gibt es kein „Gerrymandering", also das Zuschneiden der Wahlkreise, um die Wahlchancen für eine Partei zu erhöhen. Bei uns sind die Abgeordneten ziemlich abgesichert. Im Großen und Ganzen ist hier das Vertrauen in die Institutionen intakt. Deshalb gibt es dieses Erregungspotenzial wie in den USA hier nicht.
Also kann uns ja erst mal nichts passieren?
Ich halte es zum jetzigem Zeitpunkt für unwahrscheinlich. Einer der Gründe, warum die Gesellschaft in den USA so weit auseinanderdriftet, ist der, dass die Mittelschicht in den USA massiv unter Druck ist und wegzubrechen droht. In der Bevölkerung ist die Existenzangst weit verbreitet. Das bildet einen gefährlichen Nährboden für extreme Positionen. Man darf aber auch nicht vergessen, dass Donald Trump während des 2016er- Wahlkampfs ein äußerst effektiver Kommunikator war. In Deutschland haben wir glücklicherweise niemanden, der so geschickt die Ängste der Wähler schürt und zudem auch noch über eine Followerschaft von mehr als 80 Millionen Social-Media-Anhängern verfügt.
Wie unterscheiden sich die Wahlkämpfe in den USA und Deutschland?
Die Unterschiede beginnen schon mit der Parteienfinanzierung. In Deutschland ist deutlich weniger Geld im Spiel. 2017 gaben die SPD und die Union jeweils etwa 25 Millionen Euro für ihre Wahlkämpfe aus. In diesem Superwahljahr werden alle Parteien zusammen voraussichtlich die Marke von 100 Millionen Euro kaum knacken. Zum Vergleich: Joe Biden hat mehr als eine Milliarde Dollar für seinen Wahlkampf ausgegeben.
Stimmt die Gleichung: Je kostspieliger ein Wahlkampf, umso erfolgreicher ist er?
So formuliert stimmt das nur bedingt. Donald Trump hat 2016 deutlich weniger ausgegeben als seine damalige Kontrahentin Hillary Clinton und dennoch die Wahl gewonnen. Entscheidend ist aber nicht das Geld, sondern die Strategie. In den USA werden Wahlkämpfe vom Endziel gedacht. Die Kandidaten stellen sich zu Beginn der Planung die Frage, wie viele absolute Wählerstimmen sie in jedem Wahlkreis und Stimmbezirk benötigen, um die Mehrheit zu sichern – diese Zahl nennt man die „Win Number". Erst danach werden die unterschiedlichen Maßnahmen geplant.
Wie hoch schätzen Sie in Deutschland die Gefahr der Wahlbeeinflussung durch soziale Medien und Fake News ein?
Fake News können auch in Deutschland verfangen, keine Frage. Das sehen wir bei der aktuellen Impfdebatte, die auch sehr aktiv im Netz geführt wird. Allerdings ist das Ausmaß in Deutschland weit hinter dem, das wir 2016 und 2020 in den USA gesehen haben. Auch in der Bundestagswahl 2017 beziehungsweise in der letzten Europawahl haben Fake News nur eine untergeordnete Rolle gespielt.
Unter Obama begann es mit dem Microtargeting. Dahinter steht die Strategie, unterschiedliche Zielgruppen mit unterschiedlichen politischen Botschaften anzusprechen, zum Beispiel auf Facebook. Wäre eine solche Kampagne auch in Deutschland möglich?
Nicht in der Dimension, wie sie in den USA zum Einsatz kommt. Der Aufbau einer Microtargeting-Kampagne ist komplex und sehr kostspielig. Die Auswertung ist enorm aufwendig. Dazu kommt, dass in den USA Daten zur Verfügung stehen, die in Deutschland zum Glück nicht verfügbar sind. Was aber nicht heißt, dass nicht auch in Deutschland eine genauere Zielgruppen-Ansprache möglich wäre.
Wie werden denn beim Microtargeting die ausschlaggebenden Wählerinnen und Wähler identifiziert?
In den USA stehen den Parteien eine riesige Sammlung persönlicher Wählerprofile, teils durch öffentlich zugängliche Daten, teils durch kommerzielle Daten-Dienstleister zur Verfügung. Jeder, der in den USA wählen möchte, muss sich aktiv für die Wahl registrieren. Das geschieht durch das Ausfüllen einer Voter-Registration-Form, einem Formular, das viele persönliche Daten erfasst. Dazu gehören zum Beispiel Vor- und Nachname, Anschrift, Geschlecht, Ethnie und sogar in manchen Bundesstaaten die Parteizugehörigkeit. Diese Informationen können dann von den Kandidatinnen und Kandidaten eingesehen beziehungsweise erworben werden.
In Deutschland wäre ein solcher „Gläserner Wähler" unvorstellbar. Schützen die europäischen Datenschutzbestimmungen uns vor der Aushebelung des Wahlgeheimnisses?
Definitiv. Dennoch gibt es in Deutschland Möglichkeiten, datenbasiert bestimmte Wähler-Kohorten zu identifizieren und anzusprechen. Mithilfe der sozialen Netzwerke, wie zum Beispiel Facebook, kann sehr zielgerichtet Wahlwerbung an bestimmte Zielgruppen ausgespielt werden. Aber auch in klassischen Formaten, wie zum Beispiel der Postwurfsendung, gibt es Datendienstleister, wie die Post Direkt, die zielgenau Briefe in bestimmte Haushalte ausliefern kann. Allerdings wird den deutschen Parteien nie die gleiche Datenmenge zur Verfügung stehen wie in den USA. Zum Glück, muss man sagen. Was aber nicht zu unterschätzen ist: Ein solcher taktisch und digital ausgerichteter Wahlkampf erfordert ungemein viel Disziplin und noch mehr Geld. Das sieht man in den USA. Ohne eine streng hierarchisch organisierte Wahlkampfmaschinerie geht dort gar nichts.
Social-Media-Aktivitäten im Wahlkampf polarisieren in besonderem Maß. Eine Gefahr?
Demokratie braucht Streit und Auseinandersetzung. Und eine gesunde Demokratie hält einen zugespitzten Diskurs aus. Insbesondere in einem Wahlkampf ist es zwingend erforderlich, sich klar zu verorten. Das Wort „Polarisierung" ist extrem negativ besetzt. Wenn wir das Wort aber durch „Positionierung" ersetzen, dann meint es das, was ich im politischen Diskurs in Deutschland vermisse: Eine klare Verortung und Abgrenzung zum politischen Gegner.
In den USA ging es quasi nur um zwei Köpfe. Bei uns geht es mehr um Parteien und Programme?
Der amerikanische Wahlkampf ist durch eine starke Personalisierung geprägt. Der Trend geht in Deutschland in eine ähnliche Richtung. Erinnern Sie sich an die Kernaussage Angela Merkels im Wahlkampf 2017: „Sie kennen mich." Dasselbe gilt auch für die Parteitagsrede von Armin Laschet. Im entscheidenden Moment tritt er neben das Rednerpult und zieht die Bergmannsmarke seines Vaters aus der Tasche und spricht über Vertrauen. Diese Art von emotionaler Inszenierung sieht man sonst nur im amerikanischen Wahlkampf.
Welche Themen werden den Bundestagswahlkampf 2021 bestimmen?
2021 ist ein besonderes Wahljahr, da zum ersten Mal seit 16 Jahren Angela Merkel nicht mehr zur Wahl steht. Dazu kommt, dass die Loyalität der Parteisympathisanten stark zurückgegangen ist und Wählerinnen und Wähler eine große Ambivalenz an den Tag legen. Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung hat herausgefunden, dass sich die große Mehrheit der Wählerinnen und Wähler noch nicht festgelegt hat, wen sie im September wählen wird. Bezogen auf die Anhängerschaften können sich zwischen 24 Prozent (der SPD-Wählerinnen und -Wähler) und 33 Prozent (der CDU-Wählerinnen und -Wähler) vorstellen, nur eine Partei zu wählen. Das zeigt, welchen Stellenwert ein gut geführter Wahlkampf dieses Jahr hat. Allerdings ist der Wahlkampf, so wie wir ihn kennen, mit den coronabedingten Beschränkungen nicht möglich. SPD, Grüne und CDU haben schon gezeigt, wie beispielsweise digitale Parteitage ablaufen können und die Wahlkämpfer in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz machen es vor, wie auch im harten Lockdown der Wählerkontakt durch soziale Medien stattfinden kann. Inhaltlich überlagert Corona alles andere. Die CDU mit dem möglichen Kanzlerkandidaten Armin Laschet wird alles daran setzen, die Pandemie in den Griff zu bekommen und Impfungen bis zum Spätsommer weitestgehend durchgeführt zu haben, um anschließend mit dem Argument punkten zu können: Als es hart auf hart kam, waren wir da und haben das Land durch diese schwierige Zeit navigiert. Laschet steht für einen starken und sozialen Staat, der durchaus wirtschaftsfreundlich ist.
Gehen wir mal davon aus, dass die Pandemie bis zum Herbst überstanden sein wird. Mit welchen Folgen?
Wenn es gut läuft, kann Armin Laschet sagen: Schaut her, wir haben euch gut durch die Krise gebracht, die CDU ist der Garant für Stabilität. Er will Angela Merkel beerben und sich als „Wiederaufbau-Kanzler" positionieren.
Und angenommen, es läuft nicht gut mit der Pandemie und der Konjunktur. Werden die Grünen daraus politisches Kapital schlagen können?
Gut möglich. Die Grünen werden den ökologischen Umbau der Wirtschaft in jedem Fall vorantreiben wollen, indem sie der Forderung nach einer Verknüpfung von Corona-Hilfsgeldern an ökologische Vorgaben zusätzlich Nachdruck verleihen werden.
Der AfD ist das Flüchtlingsthema abhandengekommen. Trotzdem bleibt sie vor allem für die CDU eine große Konkurrenz. Wie soll sich die CDU gegenüber der AfD positionieren?
Um der AfD den Wind aus den Segeln zu nehmen, müssen die regierenden Parteien endlich liefern. Was ich damit meine: Das Leben der Menschen besser machen. Die Menschen müssen am Ende des Tages mehr Geld im Portemonnaie haben als am Anfang des Tages. Sie müssen sich auf die Infrastruktur verlassen können. Sie brauchen eine Perspektive, vor allem auch für ihre Kinder. Diese Erwartungen zu erfüllen, wird nicht einfach. Schafft es die Regierung nicht, leistet sie rechtspopulistischen Protestparteien auch in Zukunft Vorschub.