Für die Grünen ist das Kanzleramt so nah wie noch nie in ihrer Geschichte. Damit steht die Partei erstmals ernsthaft vor der K-Frage.
Es ist Robert Habeck nicht leichtgefallen, aber im Parteivorstand hatte man sich schon im Herbst darauf verständigt, dass Annalena Baerbock bei medialen Auftritten mehr in den Vordergrund gerückt werden soll. In den großen Talkshows im Fernsehen soll vor allem die 40-Jährige aus Brandenburg auftreten.
Die Stoßrichtung ist klar: Baerbock soll als Kanzlerkandidatin der Grünen antreten. Es wäre überhaupt das erste Mal in der über 40-jährigen Geschichte der Umweltpartei, dass es einen Kanzlerkandidaten beziehungsweise in diesem Fall -kandidatin gibt. Kalkül hinter der Entscheidung, dass Annalena Baerbock an der Spitze den Weg ins Kanzleramt anführen soll: Es gibt mehr grüne Sympathisantinnen als Sympathisanten. Vielleicht hat auch die Entscheidung der Linken mit dazu beigetragen, die als erste Partei jetzt eine rein weibliche Doppelspitze hat.
Ungewöhnlich bei der Grünen ist auch, dass sich die mögliche Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock auf die volle Solidarität ihres Co-Vorsitzenden Robert Habeck blind verlassen kann. Beide teilen sich als Führungsduo ein Büro, das wäre unter ihren Vorgängern Simone Peters und Cem Özdemir undenkbar gewesen. Der Realo aus Baden-Württemberg sprach mit der Fundamentalistin aus dem Saarland nur das Nötigste. In Vorstandssitzungen saßen sich die beiden schon rein räumlich diametral gegenüber, von den Inhalten ganz zu schweigen. Dieses für die Führung typische Verhalten in den rund 30 Jahren Bündnis90/Die Grünen fest eingeübte Ritual hat sich seit dem Bundesparteitag am 27. Januar 2018 in Hannover grundlegend geändert. Die beiden damals neu gewählten Vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck gelten als reines Realo-Duo. Beide haben sich fest der Sachpolitik verschrieben, mit klarem Ziel.
In der Parteizentrale am Neuen Tor direkt neben der Charité in Berlin sorgt der politische Bundesgeschäftsführer Michael Kellner für die nötige Ruhe und Kontinuität im grünen Laden. Der 43-jährige gelernte Verleger und Buchhändler, geboren in Kassel, gilt ebenfalls als Realpolitiker. Damit hatten die Grünen vor drei Jahren erstmalig keine reinen ideologischen Vertreter mehr in ihrer Führung, was sich innerhalb von zwei Jahren, zumindest in den Umfragen, auszahlte. Beim Bundesparteitag im November 2019 in Bielefeld bekam Annalena Baerbock bei ihrer Wiederwahl das höchste Ergebnis, was jemals ein Vorstand bei den Grünen bekommen hat: 97,1 Prozent der Delegierten. Co-Vorstand Habeck wurde ebenfalls mit einem Rekordergebnis von 90,4 Prozent wiedergewählt. Damit war die Vorentscheidung auch in der Partei gefallen: Die erste Kanzlerkandidatur der Grünen soll Annalena Baerbock antreten. Wobei die anstehende Entscheidung für Baerbock zu einem Vabanquespiel mit den Wählern werden könnte. Bei den Delegierten auf dem Parteitag war sie beliebter, doch in den Umfragen liegt Robert Habeck bei Beliebtheit, vor allem aber bei Bekanntheit weit vor seiner Co-Chefin. Selbst Grünen-Urgestein Joschka Fischer räumte erst kürzlich in einem Fernsehinterview ein: „Den Habeck hatte ich klar auf den Zettel, die Baerbock kam zumindest für mich aus dem politischen Nichts."
Lange galt der 51-Jährige aus Schleswig-Holstein als der eigentliche Anführer, denn er bringt die nötige Erfahrung auch als Landesminister mit. An der Waterkant agierte er sehr erfolgreich sieben Jahre als Landwirtschafts- und Umweltminister, zwei Ministerialbereiche, die sich eigentlich ausschließen, wie Habeck mit einem Augenzwinkern gegenüber FORUM einräumte. Aus Satzungsgründen seiner Partei musste er den Ministerposten aufgeben, denn bei den Grünen gibt es immer noch die Regelung: entweder Amt oder Mandat. Allerdings trotzte er hier seiner Partei auf besagtem Bundesparteitag in Hannover einen ersten Realo-Sieg ab. Er durfte sein Mandat als Umweltminister noch ein Jahr weiterführen und musste nicht sofort den Posten in Kiel aufgeben.
Nun arbeitet die Parteiführung daran, dass diese strikte Trennung von Amt und Mandat, übrigens ein Überbleibsel vom Gründungskonvent 1980 in Karlsruhe, auf dem nächsten ordentlichen Präsenzparteitag nach der Bundestagswahl zumindest gelockert wird. Denn sollten die Grünen tatsächlich in der nächsten Bundesregierung sitzen, egal ob im Kanzleramt oder in den Ministerien, wären Bündnis 90/Die Grünen innerhalb von wenigen Wochen wieder völlig führungslos, und damit droht erneut die Gefahr, dass alte Grabenkämpfe wieder aufbrechen könnten. Dann allerdings ncht mehr unter den alten Vorzeichen. Eine ideologische Linke gibt es in dem Bündnis gefühlt seit zehn Jahren nicht mehr. Und die letzten Öko-Fundamentalisten haben sich spätestens mit der Wahl der neuen Parteispitze entweder politisch verabschiedet oder sind unterdessen in Rente gegangen. Und aus der Grünen Jugend ist wenig Aufbegehren zu erwarten, denn der Streit für eine saubere, gesunde Umwelt wird längst nicht mehr auf Grünen Parteitagen ausgetragen, sondern auf der Straße.
Machtoption, weil alte Grabenkämpfe eingestellt sind
Die Wucht von Fridays for Future hat die grüne Parteiführung kalt erwischt.Vor allem, dass sich die führenden Protagonisten recht schnell verbeten haben, von den Grünen politisch vereinnahmt zu werden. In Berlin fanden die wöchentlichen Demonstrationen gleich um die Ecke von der Bundeszentrale statt, da wäre es ein Leichtes gewesen, dass der „Robert" oder die „Annalena" mal rüberkommen und eine Rede halten. Doch genau das war nicht erwünscht. Im Sommer und Herbst 2019 profitierten die Grünen dennoch von der Fridays-Bewegung. Das mag vielleicht auch daran gelegen haben, dass das deutsche Gesicht von Fridays for Future, Luisa Neubauer, Mitglied bei Bündnis90/Die Grünen ist. Inzwischen ist die mittlerweile 22-Jährige auf Distanz zu ihrer Partei gegangen, hält das Argument, nur wenn die Grünen in der Regierung sind, könne sich etwas ändern, für Augenwischerei. „Als ich geboren wurde, hatten wir eine rot-grüne Bundesregierung. Und was hat es für die Umwelt gebracht? Nichts, darum sind wir ja jetzt wieder auf der Straße", so Luisa Neubauer im FORUM-Interview.
Neben Fridays for Future hat sich gleich noch eine weitere außerparlamentarische Öko-Opposition zusammengefunden: Extinction Rebellion. Der „Aufstand gegen das Aussterben", so die freie Übersetzung, legt dabei noch wesentlich strengere Maßstäbe an die Umweltpolitik an, als FFF. Klare Botschaft an die grüne Partei „Wer als Umweltaktivist in diesem System mitregiert, versündigt sich an der Umwelt". In das Umweltcamp von Extinction Rebellion bei einer Großaktion gegenüber dem Bundestag wurde nicht mal Canan Bayram gelassen, die letzte verbliebene vom linken Flügel im Bundestag. Für die radikalen Umweltaktivisten macht sich auch Bayram mit dem System gemein und ist damit keine Gesprächspartnerin für die Aktivisten.
Das alles ficht das Traumpaar an der Spitze der Grünen nicht an. Bei ihrem digitalen Parteikonvent in der Treptower Arena Anfang des Jahres bewegten sich Annalena Baerbock und Robert Habeck in einem auf der Bühne aufgebauten Wohnzimmer wie ein trautes Ehepaar. Damit, so die Parteitagsregie, sollte die rechte Stimmung bei den Delegierten aufkommen, die ja auch in ihrem Wohnzimmer sitzen mussten. Das Parteitagswohnzimmer ist nun die neue politische Realität, nicht mehr das Ökocamp, mit Matratzen auf dem Boden. Irgendwie hat der einstige Oberrealo Joschka Fischer eben doch gesiegt.