Die SPD hat als erste Partei Klarheit über ihr Programm zur Bundestagswahl. Die Spitzenkandidatur ist schon lange klar. „Ich spiele auf Sieg", sagt ein selbstbewusster Olaf Scholz. Es sei an der „Zeit, dass die SPD den Kanzler stellt".
Herr Scholz, mit Ihnen hat die SPD als erstes einen Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl 2021 aufgestellt. Wird das Ihr Vorteil sein – oder war die SPD vielleicht sogar zu früh mit der Aufstellung?
Der Weg ins Kanzleramt ist ein Marathon, kein Sprint. Es ist ein klarer Vorteil, dass die SPD so früh einen Kanzlerkandidaten benannt hat. Wir wussten, dass CDU/CSU und Grüne dafür sehr viel mehr Zeit brauchen würden. Unterdessen nutzen wir diese Zeit gut. Wir bereiten unsere Kampagne vor und haben unser Zukunftsprogramm für die Bundestagswahl erarbeitet. All das mit dem Ziel, am 26. September ein sehr gutes Ergebnis zu erzielen und nach der Wahl den Kanzler zu stellen.
Aktuell begleitet Ihre Partei noch immer ein Umfragentief. Wie erklären Sie sich das?
Die Bundestagswahl ist für die Bürgerinnen und Bürger noch weit weg, die Corona-Pandemie steht im Moment natürlich im Blickpunkt, alles andere ist gerade nachrangig. Doch diese Bundestagswahl wird anders: Erstmals seit 1949 tritt kein Amtsinhaber, keine Amtsinhaberin an. Das ist vielen derzeit noch gar nicht klar. Zugleich werden aller Voraussicht nach sechs bis sieben Parteien in den Bundestag kommen. Die Karten werden also neu gemischt. Die SPD hat mit mir einen erfahrenen und bekannten Spitzenpolitiker als Kanzlerkandidat nominiert. Ich zeige und habe gezeigt, dass ich Regierung und Führung kann. Und die SPD ist schon jetzt der Motor der Regierung. Wir haben dafür gesorgt, dass in der Corona-Krise Millionen Menschen ihren Arbeitsplatz behalten, indem wir das Kurzarbeitergeld ausgeweitet haben. Wir haben dafür gesorgt, dass Familien mit einem Kinderbonus unterstützt werden. Und als Bundesfinanzminister habe ich die größten Hilfspakete zum Schutz von Unternehmen aufgelegt. Es ist unsere Politik, die Deutschland zuverlässig durch die Krise und in die Zukunft führen wird.
Weder die Union, noch die Grünen haben sich bislang zu einem Spitzenkandidaten geäußert. Wie lange kann man sich da noch Zeit lassen?
Ach, das müssen die Parteien schön für sich entscheiden. Aber lassen Sie mich sagen: Ich bin froh, dass wir als SPD diese Frage längst geklärt haben. Wir konzentrieren uns einerseits darauf, das Land durch die Krise zu führen. Andererseits entwickeln wir einen Plan für die Zukunft unseres Landes. Denn Deutschland steht vor wichtigen Weichenstellungen, die darüber entscheiden, ob unser Land auch in zehn, 20 und 30 Jahren noch gut dasteht. Die Wählerinnen und Wähler werden sehr genau darauf schauen, welche Zukunftsangebote ihnen gemacht werden. Und die SPD hat klare Vorstellungen darüber, was in den kommenden Jahren zu tun ist: damit überall schnelles Internet läuft, damit der Umstieg auf klimaneutrales Wirtschaften klappt, damit Deutschland technologisch an der Spitze bleibt und damit es fairer und gerechter zugeht – mit einem Mindestlohn der bei zwölf Euro anfängt und mit sicheren Arbeitsplätzen.
Nun wird dieser Wahlkampf ohnehin nicht so, wie jeder andere: Welche Probleme wird die Corona-Pandemie in Bezug auf den Wahlkampf mit sich bringen?
Dieser Wahlkampf wird anders werden als alles, was wir bisher kannten – das ist auch eine Chance. Seit einiger Zeit mache ich schon digitale Zukunftsgespräche, bei denen ich in Videokonferenzen mit Bürgerinnen und Bürgern in der ganzen Republik zusammengeschaltet bin. So schade es ist, dass wir uns nicht persönlich begegnen können, komme ich mit viel mehr Leuten in Kontakt, weil ich an ein und demselben Abend erst mit den Bürgerinnen und Bürgern in Potsdam spreche, eine halbe Stunde später mit denen in Kassel und dann noch in Erfurt. Für alle Beteiligten ist der Aufwand dabei zu sein, nicht hoch – nur ein Klick, alle Reisezeiten entfallen. Darin liegt eine große Chance. So lange es wegen Corona nicht anders geht, mache ich solche Gespräche aus dem Studio in Berlin, an vielen Abenden in der Woche, in vielen Wahlkreisen. Aber ich freue mich sehr auf die persönliche Begegnung, die dann hoffentlich wieder möglich werden wird.
Mehr Online-Präsenz bedeutet auch die Möglichkeit, Menschen anzusprechen, die man vorher nicht erreicht hat. Aber besteht nicht auch die Gefahr, gerade die ältere Wählerschaft aus den Augen zu verlieren?
Das muss man im Blick haben. Aber für meine digitalen Zukunftsgespräche kann ich bislang sagen: Da diskutieren Alt und Jung miteinander. Einer Videokonferenz beitreten, sich digital melden und das Mikrofon anschalten, diese Kompetenzen haben sich rasend schnell verbreitet über alle Altersgruppen hinweg. Und auch die beliebteste aller Fragen kennt keine Altersgrenze: Hören Sie mich?
Egal ob Online-Wahlkampf oder alltäglich gewordene Dinge wie Home -Schooling und Home-Office: Netz, Breitbandausbau und Empfang haben eine immer höheren Bedeutung bekommen. Leider auch eine, die nicht immer erfüllt wird… Hat Deutschland in Sachen Digitalisierung verschlafen?
Eindeutig: Ja. Wir haben zulange nur darüber geredet – niemand hat die Digitalisierung zur Chefsache gemacht. Wir könnten längst weiter sein. Aber Krisen sind immer auch Katalysatoren des Wandels, das wird diesmal nicht anders sein. Die SPD hat klare Vorstellungen, wie wir die Digitalisierung voranbringen. Wir brauchen eine flächendeckende Glasfaserinfrastruktur. Das ist wichtig, für alle, die jetzt Zuhause arbeiten oder im Video-Unterricht am langsamen Internet verzweifeln – aber es ist genauso wichtig für die Handwerkerin, den Unternehmer und den freischaffenden Grafiker.
Viele – gerade auch Sozialdemokraten – sind die Große Koalition leid. Das war auch einer der Gründe, warum Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans zum Spitzenduo gewählt wurden. Im Gegensatz zu den beiden, die sich klar gegen die GroKo ausgesprochen haben, sind Sie aber ein Teil dieser Koalition. Wie stehen Sie dazu?
Es wird Zeit, dass die SPD wieder den Kanzler stellt. Bei dieser Bundestagswahl geht es nicht darum, wer der Juniorpartner der Union wird. Die Karten werden neu gemischt und ich spiele auf Sieg. Ich will Bundeskanzler werden und die nächste Regierung führen. Deshalb ist es wichtig zu wissen: Wer taktisch wählt, kann sich verwählen. Wer mich als Kanzler will, muss SPD wählen.
Die Grünen scheinen schon etwas länger immer mal wieder mit der Union auf Kuschelkurs zu gehen. Dabei scheinen auch Sie immer wieder auf grüne Themen setzen zu wollen. Verliert die SPD mit diesen Angeboten nicht auch ein Stück ihrer Wählerschaft?
Den Klimawandel kann niemand ernsthaft leugnen. Fakt ist auch, dass sich Deutschland dem Ziel verschrieben hat, bis 2050 klimaneutral zu wirtschaften. Unser Land steht vor ganz wichtigen Weichenstellungen, die darüber entscheiden werden, ob wir auch in zehn Jahren noch gute Arbeitsplätze haben, endlich klimaneutral wirtschaften und technologisch in der Weltspitze agieren können. Dafür brauchen wir aber einen klaren Plan. Denn wenn wir jetzt falsch abbiegen, werden wir nicht wieder auf die richtige Spur kommen. Die SPD setzt auf Fortschritt: auf Arbeitsplätze, die in Deutschland entstehen, auf Technologien, die in Deutschland entwickelt werden – und auf den Ausbau der erneuerbaren Energien und den Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft.
Egal, ob nun Armin Laschet oder Markus Söder, ob Annalena Baerbock oder Robert Habeck: Alle vier Politiker verkörpern eine gewisse Richtung. Für was stehen Sie?
Na, ich denke, nach 20 Jahren in der Spitzenpolitik habe ich mir einen gewissen Ruf erarbeitet: Als Vizekanzler, Bundesfinanzminister, früherer Bundesarbeitsminister und Bürgermeister Hamburgs habe ich gezeigt, dass ich Regierung kann und Führung. Ich stehe für einen klaren Kurs. Ich habe konkrete Vorstellungen für die Zukunft unseres Landes. Und ich sage zu: Ich kann sie auch umsetzen. Ich habe schon viele Veränderungen, die mir im Leben wichtig waren, politisch vorangebracht. Als Arbeitsminister habe ich die ersten Mindestlöhne für einige Branchen durchgesetzt. In meinen Jahren als Bürgermeister in Hamburg habe ich gebührenfreie Kita-, Krippen- und Studienplätze geschaffen, als vielerorts noch niemand darüber redete. Politik kann Dinge bewirken. Mein Anspruch: Politik muss das Leben verbessern – und zwar das Leben von ganz, ganz vielen.
Sie möchten einen „Respekt-Wahlkampf" führen, haben Sie vor einiger Zeit angekündigt. Was verstehen Sie darunter?
Ich setze mich ein für eine Gesellschaft, in der es wieder mehr gegenseitigen Respekt gibt. Wer in einem Supermarkt arbeitet oder einen Lkw fährt, macht gute Arbeit. Unsere Corona-Heldinnen und -Helden verstehen genau, was ich meine. Es reicht eben nicht, samstags Beifall zu klatschen. Der Respekt muss sich auch in guten Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen zeigen. Außerdem geht es um das Zusammenleben der Gesellschaft, darum, dass Frauen und Männer nicht nur auf dem Papier gleich sind. Damals als Student hätte ich es nicht für möglich gehalten, dass wir heute immer noch keine echte Gleichstellung haben. Es geht um Geld, um Macht, um Rechte und Pflichten. Mir ist wichtig: Niemand soll sich für etwas Besseres halten.
Sind Wahlkämpfe nicht generell mit Respekt verbunden? Oder fällt Ihnen ein Beispiel ein, an dem Ihnen der Respekt im Umgang miteinander gefehlt hat?
Es geht nicht um eine Geste im Wahlkampf, sondern um ein Umdenken in Politik und Gesellschaft. Wenn wir meinen, handfeste Tätigkeiten wie U-Bahnhöfe putzen, Kranke pflegen oder Pakete ausliefern seien in unserer Welt der internationalen Finanzströme keinen angemessenen Lohn wert, wird unsere Gesellschaft auseinander brechen. Wohin ein solches Denken führt, kann man bei der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten besichtigen, bei der Entscheidung des Vereinigten Königreichs, aus der EU auszutreten. Gegen solche Entwicklungen setze ich das Konzept des Respekts. Es kann doch nicht sein, dass zur Globalisierung der Verlust beruflicher Sicherheit quasi zwangsläufig dazu gehört. Das will ich verändern – und diesen Willen zur Veränderung sehe ich bei anderen nicht.
Apropos Respekt: Auch in dem vor wenigen Tagen vorgestellten SPD-Wahlprogramm liest man häufig das Wort „Respekt". Hat ein respektvoller Umgang in den heutigen Zeiten einen wichtigeren Stellenwert bekommen, als noch vor zehn, 20 Jahren?
Für mich ist Respekt ein zentrales Thema – und es ist auch das verbindende Thema der SPD. Wir sind eben nicht bei denen, die sich für etwas Besseres halten. Wir verstehen uns nicht als Partei für einige wenige, wir sind eine Volkspartei. Die Gegensätze in unserer Gesellschaft wachsen. Das hat viele Facetten, beispielsweise die Frage, ob man in der Stadt und auf dem Land vergleichbare Chancen hat, zählt dazu. Oder ob sich Nicht-Akademiker in unserer Gesellschaft genauso anerkannt fühlen wie Akademiker. Oder ob sich Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland in ihrer Berufs- und Lebensbiografie entwertet fühlen. Da sind Wunden entstanden, die längst nicht verheilt sind. Als junger Anwalt bin ich Anfang der 90er-Jahre nach Ostdeutschland gegangen und habe Beschäftigte und Gewerkschaften vertreten. Jetzt lebe ich mit meiner Frau in Brandenburg, es ist bis heute zu spüren.
Generell liest sich das Wahlprogramm sehr entschlossen, manche Punkte sogar so, als gäbe es an ihnen nichts mehr zu rütteln. Bei welchen Punkten wird die SPD nicht kompromissbereit sein?
Ich bin sehr zufrieden mit dem Zukunftsprogramm. Wir haben in den vergangenen Monaten viele Stimmen und Ideen aus der Partei gesammelt. Einen so breiten Beteiligungsprozess hat es noch nie zuvor gegeben. Was mir besonders wichtig ist: Wir schauen zuversichtlich auf die 2020er-Jahre. Die vor uns liegenden Herausforderungen brauchen Antworten, die den Fortschritt gestalten und gleichzeitig Sicherheit garantieren in diesem Wandel. Dafür treten wir an mit unserem Programm. Dabei ist ganz entscheidend: Das Programm ist nicht die Summe von Einzelprojekten, sondern vielmehr ein Fahrplan. Eine Station aber wird ganz sicher der Mindestlohn von zwölf Euro sein.
Wieder andere Punkte stehen im Raum, scheinen aber in dem 48-Seiten-Wahlprogramm kaum ausgefüllt zu werden. Mir fällt da beispielsweise der „neue sozial-ökologische Gesellschaftsvertrag" ein. Welche Bedeutung soll ein solcher Vertrag für die Gesellschaft haben?
Die SPD hat vier konkrete Zukunftsmissionen formuliert, große Aufgaben, die wichtig sind, damit unser Land auch in 20 und 30 Jahren über gute Arbeitsplätze verfügt und gleichzeitig klimaneutral wirtschaftet. Das muss man aber nicht nur fordern, sondern dann auch hart arbeiten, damit das hinhaut – und zwar für alle.
Mit Hartz IV soll Schluss sein. Das fordert Ihre Partei nun auch schon seit längerem. Dabei waren Sie einst einer der größten Verfechter der Agenda 2010. Wann und warum hat sich Ihre Haltung diesbezüglich geändert?
Jede Zeit kennt ihre Antworten, hat ein kluger Mensch mal gesagt. Die Situation heute ist völlig anders als die Lage im Jahr 2003, als wir fünf Millionen Arbeitslose hatten und Deutschland der kranke Mann Europas war. Rot-Grün musste handeln. Haben wir bei der Agenda alles richtig gemacht? Natürlich nicht. Damals hätte der Mindestlohn von Anfang an Teil der Reformen sein müssen. Das war aber erst später durchsetzbar, übrigens von der SPD gegen starke Widerstände. Der Mindestlohn ist erforderlich, weil es in der veränderten Arbeitswelt leider nicht mehr ausreicht, allein auf Tarifverträge zu setzen. SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil hat einen guten Vorschlag zur Reform der Grundsicherung vorgelegt. Unsere Mission ist es, die Grundsicherung unbürokratischer und bürgerfreundlicher zu gestalten. Ich halte diesen Schritt für richtig und wichtig.
Auch mental scheint sich die Gesellschaft immer weiter zu spalten. Wie beurteilen Sie diese Entwicklung?
Wie eben schon erwähnt: Die Spaltungstendenzen in den westlichen Gesellschaften haben zugenommen. Auch unsere Gesellschaft strebt auseinander –
die SPD will sie wieder zusammenführen. Da geht es um sichere Arbeitsverträge, gute Löhne, um Sicherheit im Alter. Es fehlt an Anerkennung, an Respekt für unterschiedliche Lebensentwürfe. Ich stehe für eine Umkehr. Ich will eine gesellschaftliche Koalition schaffen, in der unterschiedliche Arbeit und unterschiedliche Berufe gleichermaßen anerkannt werden.
Macht diese Spaltung den Gedanken der Volkspartei überflüssig? Bietet diese Situation gerade den linken und rechten Extrempolen Nährboden?
Im Gegenteil, die Volksparteien werden mehr gebraucht denn je, um die vielfach widerstreitenden Interessen miteinander zu verbinden: Deutschland steht vor einer Zeit der Umbrüche. Wie wir leben, arbeiten und produzieren – all das wandelt sich. Populisten – egal ob rechts oder links – geben vor, sie hätten einfache Lösungen für komplizierte Probleme. Das ist immer falsch. Das zeigt sich auch sehr eindrucksvoll in der aktuellen Corona-Krise. Populisten nutzen sie, um die Gesellschaft zu spalten. Die eigentliche Herausforderung für die Politik besteht aber im Führen und Zusammenführen, also darin, politische Ziele über den Tag hinaus zu definieren und verschiedene Interessen und Wertvorstellungen fortschrittlich zu integrieren.
Was kann man dagegen tun?
Wir gehen die Zukunft beherzt und mit Zuversicht an. So können wir unser Leben besser und unser Zusammenleben gerechter gestalten.
Nicht schlechte Laune und Verzagtheit – die Zukunft verlangt nach Erfahrung und Mut.