Am 24. März 1976 putschte das argentinische Militär bereits zum sechsten Mal im Laufe des 20. Jahrhunderts und leitete bis zu seiner Abdankung 1983 eine gnadenlose Vernichtungsaktion gegen missliebige Gegner ein. Geduldet von einer passiven Weltöffentlichkeit.
Was sich am 24. März 1976 in Argentinien zutrug, dürfte niemanden groß überrascht haben. In einem Land, das bis zu diesem Tag schon fünf Putsche des Militärs im Laufe des 20. Jahrhunderts erlebt hatte, war die erneute Machtübernahme durch Generäle wahrlich nichts Ungewöhnliches. Noch rund 30 Jahre zuvor galt Argentinien dank riesiger Rohstoffvorkommen und begehrter Bodenschätze sowie einer florierenden, Europa mit Fleisch, Getreide und Leder versorgenden Landwirtschaft zu den reichsten Gemeinschaften der Welt. Das Pro-Kopf-Einkommen zählte damals zu einem der größten weltweit. Drei Jahrzehnte später aber befand sich der Staat wirtschaftlich im steilen Sinkflug und war innenpolitisch in bürgerkriegsähnlichen Zuständen versunken.
Das daraus erwachsene Chaos konnte natürlich nicht allein der amtierenden Präsidentin Isabel Martínez de Perón angelastet werden. Dennoch war die ehemalige Nachtclub-Tänzerin ohne jegliche Erfahrungen im Regierungsgeschäft und letztlich mit dem Amt völlig überfordert. Im Grunde war sie nichts anderes als eine Marionette machtgieriger Politiker, mit dem Minister für Soziale Wohlfahrt José López Rega an der Spitze. Er hatte zu den treuesten Anhängern ihres im Juli 1974 verstorbenen Mannes Juan Domingo Perón gezählt, der in Argentinien noch immer als Übervater und Wohltäter der Nation gefeiert wurde und dessen peronistische Bewegung auch heute noch die wesentlichen Strippen in dem südamerikanischen Land zu ziehen pflegt.
Dass es Isabel Perón, die ohne offizielle Wahl als von ihrem Mann ernannte Vizepräsidentin zum höchsten Posten des Landes gekommen war, in ihrer gerade mal 632 Tage währenden Regierungszeit nicht gelang, die Gräben einzuebnen, war kaum verwunderlich. Zu tief war die Gesellschaft wie auch die in der Partido Justicialista zusammengeschlossenen Peronisten seit Ende der 60er-Jahre gepalten. Das war nicht einmal ihrem vergötterten Ehemann gelungen, auch wenn diesem für diese Mammutaufgabe in seiner dritten, gerade mal gut neun Monate dauernden Amtsperiode als Präsident nach seiner Rückkehr aus dem spanischen Exil nicht ausreichend Zeit zur Verfügung gestanden hatte und er daher nicht mehr an seine präsidialen Erfolgsjahre zwischen 1946 und 1955 anknüpfen konnte.
Dass Isabel Perón allerdings nicht nur tatenlos dabei zusah, sondern diese sogar verschärft hat, sehr wohl. Sie hatte ihre Zustimmung dazu gegeben, dass die von José López Rega ab Ende 1973 aufgebauten, dem rechtsextremistischen Peron-Lager angehörenden Todesschwadronen der Alianza Anticomunista Argentina (AAA) sich einen blutigen Kampf mit den Anfang der 70er-Jahre etablierten, dem links-revolutionären Flügel der peronistischen Bewegung zuzurechnenden Montoneros und der marxistischen Revolutionären Volksarmee (ERP) liefern konnten. Ganz offensichtlich hatte sie sich auf die Seite des rechtsterroristischen Lagers der Peronisten geschlagen, obwohl sich auch die linksextremen Peronisten mit einigem Recht als wahre Nachfolger des legendären Gründervaters der Bewegung ansehen konnten. Der Peronismus war eine ziemlich diffuse populistische Strömung, die sich weder als links noch als rechts exakt einordnen ließ, sondern sich in Argentinien als eine politische Sonderform aus spanischem Franquismus ohne rassistische Tendenzen und sozialistischen, dem Wohle der Arbeiterschaft verpflichteten, Grundsätzen entwickelt hatte.
30.000 Opfer durch „Säuberungsaktion"
Als das Militär am 24. März 1976 die Macht mittels einer dreiköpfigen Junta unter Leitung des Generals Jorg Rafael Videla übernommen hatte, wurde dieser Akt vom Großteil der argentinischen Bevölkerung zunächst einmal als richtig wahrgenommen. Zuvor war die Präsidentin Isabel Perón auf der Terrasse ihres Amtssitzes Casa Ronda in Haft genommen und mit einem Hubschrauber für die nächsten fünf Jahre zum Hausarrest in ihr patagonisches Luxusschlösschen verfrachtet worden. Von der Militärdiktatur erwartete sich das Volk ein Ende des durch ständige Attentate geprägten Bürgerkriegs. Gleichsam hegte es die Hoffnung, dass die Militärs die unter einer ständig wachsenden Auslandsverschuldung und einer jährlichen Inflationsrate von bis zu 600 Prozent ächzende Wirtschaft wieder in Schwung bringen könnten. Zumal sie vor dem Putsch Kontakt mit den USA aufgenommen und dabei aus ihrer Sicht das Okay für den Machtwechsel erhalten hatten.
Kaum jemand ahnte, dass die Militärs mit ihrer als „Prozess der Nationalen Reorganisation" verbrämten politischen Säuberungsaktion bald bis zu 30.000 Menschen töten würden. Dieser Staatsterror ist unter der Bezeichnung „Schmutziger Krieg" in die Geschichte eingegangen. Dabei hatte General Videla schon 1975 auf einer Konferenz amerikanischer Streitkräfte ein Blutbad angekündigt: „In Argentinien werden so viele Menschen sterben, wie es für die Herstellung der Ordnung erforderlich ist." Deutlich konkreter wurde sein Generalkollege Luciano Benjamin Menéndez schon wenige Tage nach der Machtübernahme: „Wir werden 50.000 Menschen töten müssen, 25.000 Subversive, 20.000 Sympathisanten, und wir werden 5.000 Fehler machen."
Unmittelbar nach dem Putsch setzte daher unter dem Vorwand, den Linksterrorismus bekämpfen zu wollen, eine systematische Verfolgungsjagd auf alle „Subversiven" ein. Dabei wurde kein großer Unterschied zwischen Linken, Gewerkschaftern oder vermeintlichen Oppositionellen jeglicher Art gemacht. Alle wurden zunächst meist in Lager verschleppt, von denen im gesamten Land mehr als 340 eingerichtet worden waren und von denen das in der Technikschule der Marine (ESMA) in Buenos Aires etablierte Geheimgefängnis mit 5.000 Betroffenen besonders berüchtigt war. Folter und Mord waren Standard, nur wenige Gefangene wurden nach monatelanger Haft entlassen. Noch brutal-sadistischer war die Praxis, Inhaftierte zu betäuben, um sie anschließend aus einem Flugzeug ins Meer oder in den Rio de la Plata zu werfen. Oberste Prämisse war, dass von den Ermordeten keinerlei Spuren auffindbar sein sollten, weshalb die meisten Opfer heimlich in Massengräbern verscharrt wurden. Dadurch war es für die Angehörigen unmöglich, konkrete Hinweise auf das Schicksal der Getöteten zu erhalten, unter denen sich auch Frauen befanden. Deren in den Gefängnissen geborene Babys, schätzungsweise 500, wurden zur Adoption an kinderlose Offiziers- oder Unternehmerfamilien übergeben.
Auch Ausländer unter den Verschwundenen
Auch Ausländer, die sich im Land aufhielten, zählten zum Teil zu den Betroffenen. In Deutschland sorgte vor allem der tödliche Leidensweg von Elisabeth Käsemann, die sich in Armenvierteln engagiert und Regimekritikern zur Flucht verholfen hatte, für Schlagzeilen. Der sozialliberalen Bundesregierung wurde seitens der Käsemann-Familie der Vorwurf gemacht, sich aus wirtschaftlicher Rücksicht nur unzureichend um die Freilassung ihrer Tochter gekümmert zu haben.
Auch international gab es kaum nennenswerte Proteste gegen die Militärjunta. Die US-Regierung unter Gerald Ford machte aus ihren Sympathien für die argentinischen Militärs, die mit der gekonnten Inszenierung der Fußball-Weltmeisterschaft 1978 Pluspunkte sammeln konnten, sogar keinen Hehl. Da die meisten Opfer von den Militärs offiziell einfach zu „Verschwundenen" deklariert worden waren, machte schnell im Land der entsprechende Begriff „Desaparecidos" die Runde. Schon 1977 hatte die Junta sämtliche linken Guerilla-Organisationen komplett zerschlagen. Im gleichen Jahr regte sich ab dem 30. April erstmals Widerstand durch furchtlose Frauen von Verschwundenen. Sie verlangten als „Madres de Plaza de Mayo" mit jeweils an Donnerstagen auf dem Hauptplatz von Buenos Aires abgehaltenen Protestkundgebungen immer lautstärker Auskunft über das Schicksal ihrer Angehörigen.
Amnestiegesetz wurde wieder gekippt
Da der öffentliche Druck auf die Militärdiktatur, die die wirtschaftlichen Probleme überhaupt nicht in den Griff bekam, immer größer wurde, suchte sie einen Erfolg auf außenpolitischem Terrain. Die Rückeroberung der von Großbritannien seit 1833 besetzten Falklandinseln schien eine einfache und in Argentinien überaus populäre Aktion zu sein. Doch die Briten bereiteten der hoffnungslos unterlegenen argentinischen Armee in dreimonatiger Rekordzeit 1982 eine vernichtende Niederlage. Die Junta entschloss sich zur Abdankung und erlaubte die Rückkehr zur Demokratie. Am 30. Oktober 1983 wurden erstmals wieder freie Wahlen abgehalten. Zuvor hatten die Militärs aber noch versucht, durch den Erlass eines Amnestiegesetzes sämtliche Verfolgungen der Haupttäter wegen Menschenrechtsverletzungen unmöglich zu machen. Zwar wurde dieses Gesetz nach der Wahl umgehend wieder außer Kraft gesetzt, aber auch später wurde die gerichtliche Aufarbeitung der Diktaturzeit immer wieder behindert. 2012 wurde General Videla zu 50 Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er wegen seines Todes im Mai 2013 aber nicht einmal ein Jahr abgesessen hatte.