Der in Südafrika geborene Violinist Daniel Hope spricht über das musikalische Genie Alfred Schnittke. Seinem Spiritus Rector hat er das Album „Works for Violin & Piano" gewidmet.
Herr Hope, was hat Sie als junger Musiker an dem 40 Jahre älteren Komponisten Alfred Schnittke so fasziniert, dass Sie ihn treffen wollten?
Mit 16, 17 Jahren habe ich als Student an einem Meisterkurs auf dem Schleswig-Holstein-Musikfestival teilgenommen. Da hörte ich einen Geiger Schnittkes 1. Sonate interpretieren. Diese Musik hat mich so gepackt, dass ich sie unbedingt spielen wollte. Mit 18 habe ich dann in Lübeck bei Zakhar Bron studiert, wo meine Obsession für Schnittke weiterging. Ich hatte herausgefunden, dass er in Hamburg lebte. Meine Mission war, ihn persönlich kennenzulernen. Damals musste man das noch über Verleger und Agenturen machen, aber die wollten von einem 18-Jährigen nichts wissen.
Wie ist es Ihnen schließlich gelungen, den Meister zu treffen?
Durch Zufall habe ich jemanden kennengelernt, der im selben Haus wohnte. Eines Abends habe ich einfach an Schnittkes Tür geklingelt. Er war nicht nur zu Hause, er hat mich auch hineingelassen. Ein extrem offener und freundlicher Mensch. Ich konnte mein Glück nicht fassen. Ich durfte ihn dann zwei Jahre lang regelmäßig besuchen, so habe ich mich noch mehr in seine Musik hineinversetzen können. Letztendlich war ich sein größter Fan. Bis dahin hatte ich kaum etwas von lebenden Komponisten gespielt.
Im Mittelpunkt Ihres mit dem ukrainischen Pianisten Alexey Botvinov eingespielten Albums stehen Werke, die Sie als junger Mann mit dem Komponisten einstudiert und für ihn gespielt haben.
Die „Violinsonate Nr. 1" war meine erste Konfrontation mit seiner Musik. 1999 erschien meine Debüt-CD mit einer Orchesterversion dieses Stücks. Damit schließt sich für mich ein Kreis. Das „Madrigal in memoriam Oleg Kagam" hingegen war für mich eine Entdeckung. Diese Musik mit dem Pianisten Alexey Botvinov zu spielen ist eine große Freude.
Was haben Sie von Schnittke gelernt?
Er gab mir den Rat: Sei immer du selbst! Geh Deinen eigenen Weg! Das in einem Alter zu hören, in dem man viele Fragen hat, hat mich sehr bestärkt. Dieses Vertrauen in mich als Nobody war sehr bewegend. Er ermutigte mich darin, ein Festival mit seinen Werken an der Royal Academy of Music in London zu planen, wo ich parallel studierte. Er wollte über mich den Kontakt zu alten Freunden wieder aufnehmen.
Welches war Schnittkes Alleinstellungsmerkmal als Komponist?
Es war die Fähigkeit, zwischen den Genres und Stilen konsequent zu springen. Ich kenne keinen anderen Komponisten, der so viele verschiedene Stile bedienen konnte, von Barock bis Tango, von mexikanischer bis Zwölftonmusik. Immer wenn man dachte, man hätte verstanden, was er macht, sprang er woanders hin. Für manche ist das schwer nachvollziehbar, für mich aber war es himmlisch. Seine größtenteils tonale Musik hatte eine große Kraft, ohne jemals sentimental zu sein. Eine knallharte kompromisslose Musik mit Augenzwinkern.
Schnittkes Werk ist gekennzeichnet durch viele Zitat-Passagen. Waren diese Zitate aus Ihrer Sicht notwendig?
Schnittke war geprägt vom sowjetischen System, mit dem er große Probleme hatte. Er war radikal dagegen. Schostakowitsch war für ihn einerseits ein großer Einfluss, andererseits hat er Distanz zu ihm gehalten. Schnittke hat von ihm zum Beispiel das Motiv DSCH übernommen, aber er hat es gedreht. Das wurde in der Sowjetunion als Respektlosigkeit angesehen, weshalb er große Probleme mit dem Regime bekam. Deshalb flüchtete er sich in die Filmmusik, wo er sehr populär wurde. Das Regime hat Schnittke daraufhin als nicht seriös niedergemacht.
Der deutsch-russische Komponist wurde in der Sowjetunion vom KGB beobachtet. Er durfte lange Zeit nicht ins kapitalistische Ausland reisen. Hat er seine politische Haltung auch jenseits der Musik offenbart?
Nein, aber er ist mit seiner Musik sehr weit gegangen. Als Student schrieb er die „Sonate 0". Darin zitiert er Ravel und Debussy, was in der Sowjetunion damals ein Affront war. Das brachte die Zensoren auf die Palme.
Schnittke sagte einmal, er wolle die unsinnige Trennung zwischen E- und U-Musik aufheben. Ist ihm das gelungen?
Absolut, aber anders als bei anderen Komponisten. Schnittke lehnte es konsequent ab, in eine Schublade gesteckt zu werden. Er hat sich niemals bestätigen lassen, dass er verstanden wird und ist immer dagegen angegangen. Seine Haltung war: „Nur du selbst weißt, was du kannst". Talent reift nach seinen eigenen Regeln; man kann es nicht vorhersagen. Schnittke war rastlos in seiner Sucht nach Musik und Information. Seine Musik hat eine rastlose Qualität, die für einen Interpreten extrem spannend ist zu spielen.
Wird er heute in Russland wieder viel gespielt?
Leider nicht. Er ist ein bisschen in Vergessenheit geraten, weshalb ich auch dieses Album machen wollte. Die Ablehnung durch den Staat hat dazu geführt, dass er von der breiten Masse in Russland nicht mehr wahrgenommen wird. Aber gerade seine Sinfonien klingen heute wieder sehr zeitgemäß. Ich hoffe, man wird ihn wiederentdecken.
Schnittke hat für sein relativ kurzes Leben – er starb 1998 mit 63 Jahren in Hamburg – viel komponiert, darunter 70 Filmmusiken. Nach seinem zweiten Schlaganfall konnte er zuletzt nicht mehr sprechen, wenn auch bis zur letzten Stunde seines Lebens schreiben. Bei der Reinschrift der 9. Sinfonie ist er zusammengebrochen und gestorben. Klingt seine 9. Sinfonie wie eine Todesverkündigung?
Das ist sehr subjektiv. Ich weiß es nicht. Am makabersten ist für mich sein Bratschen-Konzert. Schnittke sagte, er habe Teile davon im Jenseits geschrieben. Als er aus dem Koma erwachte, schrieb er das auf, was er erlebt hatte. Hört man sich die Aufnahme von Juri Baschmet von diesem Stück an, ist das sehr schmerzhaft. Seine späten Werke wirken wie nicht von dieser Welt. Ob das eine direkte Verkörperung des Jenseits ist, vermag ich aber nicht zu sagen.
Haben Sie sich an die erschwerten Arbeitsbedingungen unter Corona gewöhnt?
Es ist ein Trauerspiel für freischaffende Künstler! Ich hatte das große Glück, dass ich für Arte eine Zeit lang jeden Abend von zu Hause aus eine Fernsehsendung machen durfte. Ich konnte jeden Tag proben und mit anderen Menschen Musik machen. Ein großes Privileg. Und jetzt kümmere ich mich um meine Familie und mache Homeschooling mit meinen Kindern. Wie die meisten hoffen wir, dass es irgendwann besser wird. Aber um die freie Kulturszene sorge ich mich sehr. Ich habe das Gefühl, wir werden von der Politik missverstanden. Obwohl es in Deutschland eine große Unterstützung gibt, frage ich mich, wie es hier in ein, zwei Jahren aussehen wird.
Werden es Newcomer in Zukunft noch schwerer haben?
Ich befürchte ja. Das ist auch in Deutschland von Agenturen und Veranstaltern ganz klar gesagt worden: Wenn alles wieder anfängt, wollen sie nicht auf junge, unbekannte Talente setzen, sondern sich erst einmal selber erholen. Dazu brauchen sie die Big Names. Einerseits kann ich das verstehen, auf der anderen Seite finde ich es aber nicht akzeptabel. So liegt es auch an den Big Names, den Newcomern unter die Arme zu greifen. Deshalb hatte ich in der zweiten Staffel von „Hope@Home" ausschließlich junge soloselbständige Künstler eingeladen. Jeder von denen hat dank Arte eine Plattform und eine Gage bekommen. Das ist aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein.
Talent setzt sich auf dem Markt aus eigener Kraft durch. Gilt dieser Satz in Zeiten von Corona noch?
Ja, das ist so. Aber bereits lange vor Corona, dem Internet und dem Tonträger hat man Netzwerke und Glück gebraucht. Heute wird tausendmal schneller kommuniziert, aber das Prinzip ist gleich geblieben. Es gibt da draußen viele Talente, die sich nicht durchsetzen können. Deswegen müssen wir alle offen und wach für den Nachwuchs der klassischen Musik sein. Genauso wie Alfred Schnittke mir als Nobody eine Chance gegeben hat, bin ich jetzt verpflichtet, das auch zu tun, wenn ich das Gefühl habe, dass jemand etwas zu sagen hat. Das ist ein unverzichtbarer Teil der Musikindustrie.