Mehrere deutsche Großstädte kämpfen für eine Regelgeschwindigkeit von 30 km/h. Das Bundesverkehrsministerium könnte solche Modellversuche genehmigen, bremst sie aber lieber aus.
Ein Mann im dicken Wintermantel steht vor einer Straße, auf die ein Tempo-30-Schild gemalt ist. So beginnt ein Video, das der Freiburger Oberbürgermeister Martin Horn auf Facebook hochgeladen hat. Der Mann im Mantel ist er selbst; das Video richtet sich an den „lieben Verkehrsminister Andreas Scheuer". So niedrig die Temperaturen am Drehtag offenbar waren, so frostig fielen kurz darauf die Kommentare aus, die Horn mit seinem Video generierte. Ein Nutzer moniert, der parteilose OB sei ein „Trojanisches Pferd" und lasse nun „seine grüne Hose runter". Andere finden seine Idee „grandios" und „mutig". Horn fordert eine Regelgeschwindigkeit von 30 km/h in Freiburg. Einfach so einführen kann er sie nicht; zuerst müsste das Bundesverkehrsministerium zustimmen. Erlaubt sind 30er-Zonen laut Straßenverkehrsordnung nämlich nur dann, wenn ein konkreter Anlass vorliegt. Zum Beispiel vor Schulen, in Wohngebieten oder an Unfallschwerpunkten. Um das Vorhaben dennoch umzusetzen, hat Horn beim Verkehrsministerium einen Modellversuch beantragt – nicht nur per Facebook, sondern zuvor auch in einem offiziellen Brief.
Stets Absagen aus dem Ministerium
Am jetzigen Zustand stört den Freiburger OB vor allem das Wirrwarr. In seinem Video steht er an einer Straße, an der es vier verschiedene Temporegelungen im Umkreis von 200 Metern gebe: Tempo 30 nachts, Tempo 30 generell, Tempo 30 vor der Schule, Tempo 30 temporär befristet. „Da blickt keiner mehr durch", sagt Horn und wünscht sich stattdessen eine Vereinheitlichung. Dies bringe nicht nur Vorteile für Fußgänger und Radfahrer, sondern auch Klarheit für alle, die im Auto unterwegs sind. Angenehmer Nebeneffekt: „Wir könnten uns Hunderte, wenn nicht Tausende Verkehrsschilder sparen."
Der 36-Jährige, der 2018 zum Oberbürgermeister gewählt wurde, hat in seiner kurzen Amtszeit schon viel erlebt. Direkt am Wahlabend verpasste ihm ein Mann ein blaues Auge; später erhielt er Morddrohungen, nachdem er dazu aufgerufen hatte, Geflüchtete nicht zu pauschalisieren. Und jetzt das Tempolimit. „Das Thema emotionalisiert", räumt Horn ein. Noch nie habe er so viele kritische Kommentare bei Facebook erhalten wie bei diesem Video, sagt der Politiker. Um gleich nachzuschieben: „Bei Instagram waren die Reaktionen hauptsächlich positiv." Ihm gehe es nicht um die Weltrevolution, stellt Horn klar. „Aber wir wollen keine Autostadt, sondern eine lebenswerte Stadt."
Der Modellversuch soll zwei Jahre dauern und wissenschaftlich begleitet werden: Wie ändert Tempo 30 den Verkehrsfluss? Wird die Luft besser? Der Lärm reduziert? Steigen mehr Personen auf Busse und Bahnen um? Während der grüne Verkehrsminister in Baden-Württemberg die Idee öffentlich unterstützt, ist man in Berlin weniger begeistert: Nach dreimonatiger Wartezeit hat das Bundesverkehrsministerium nun geantwortet. Den Brief haben bislang weder die Stadt noch das Ministerium veröffentlicht, nur das Fazit ist klar: eine Absage.
Dabei ist Freiburg nicht die einzige Stadt, die das „Modell 30" gern testen würde. In Darmstadt hatte sich Oberbürgermeister Jochen Partsch (Grüne) mithilfe des Landes Hessen ebenfalls an Scheuer gewandt, auch hier mit den bekannten Argumenten: mehr Verkehrssicherheit, mehr Klimaschutz, weniger Schadstoffe. Das Verkehrsministerium lehnte ab, Partsch ist sauer: „Hier wird ein grundlegendes Interesse aus der Bürgerschaft ignoriert und eine Chance zu mehr Verkehrssicherheit und Anwohnerschutz vertan."
Grundlegende Mobilitätswende
Aber ist das wirklich so? Was die Verkehrssicherheit angeht, ist die Sache nicht ganz eindeutig. Siegfried Brockmann, Leiter der Unfallforschung der Versicherer (UDV), spricht zunächst von einfacher Physik: „Wenn man langsamer fährt, sind die Anhaltewege kürzer und die Aufprallenergie ist geringer." Aber: Laut UDV würden 89 Prozent aller Radfahrer bei Geschwindigkeiten von unter 40 km/h schwer oder tödlich verletzt, zum Beispiel beim Abbiegen (Toter Winkel) oder durch eine Kollision mit einer Autotür („Dooring"). Durch eine niedrigere Regelgeschwindigkeit wäre das Gros der Radfahrer also nicht unbedingt sicherer unterwegs.
Bei Fußgängern ist der Unterschied schon größer: Wenn sie schwer oder tödlich verletzt werden, sind in 30 Prozent der Fälle Geschwindigkeiten von über 40 km/h im Spiel. „Das ist nicht unerheblich", sagt Brockmann. Er selbst würde gern einen Modellversuch starten, um einen Vorher-Nachher-Vergleich in Bezug auf die Unfallzahlen zu haben. Dass der Verkehrsminister das Vorhaben blockiert, wurmt den Unfallforscher. „Es ist wie bei Tempo 130 auf der Autobahn", sagt Brockmann. In dieser Legislaturperiode rechne er nicht mehr mit Besserung.
Trotzdem gibt es Städte, die die Hoffnung nicht aufgeben. In Bonn etwa möchte die grüne Oberbürgermeisterin Katja Dörner nun ebenfalls eine 30 auf den meisten innerstädtischen Verkehrsschildern sehen. Dass andere Kommunen mit demselben Vorstoß gescheitert sind, entmutigt sie nicht: „Ich finde es sehr wichtig, dass Städte vorangehen und ihre Anliegen kundtun", sagt Dörner, die 2020 mit dem Versprechen angetreten ist, in Bonn eine grundlegende Mobilitätswende einzuleiten. Zuvor hatte sie elf Jahre lang ein Bundestagsmandat inne. „Auch da habe ich wahrgenommen, dass sich die Stimmung in der Verkehrspolitik allmählich ändert", sagt Dörner. „Ich bin verhalten optimistisch – der stete Tropfen höhlt den Stein."