Etienne Kinsinger und Gennadij Cudinovic haben sich einen Traum erfüllt: Die Ringer des KSV Köllerbach und AC Heusweiler haben sich für die Olympischen Spiele in Tokio qualifiziert. Beide erreichten beim Qualifikationsturnier in Budapest das Finale ihrer Gewichtsklasse.
Was haben die fünf olympischen Ringe, zwei saarländische Ringer und ein Eichhörnchen gemeinsam? Erst mal nix. In die richtige Reihenfolge gesetzt und ausformuliert ergibt sich aus diesen Schlagworten ein Saarsport-Märchen der Extraklasse: Die Bundesliga-Ringer Etienne Kinsinger vom KSV Köllerbach und Gennadij Cudinovic vom AC Heusweiler haben sich am vergangenen Wochenende in der BOK Sports Hall in Budapest für die Olympischen Spiele in Tokio (23. Juli bis 8. August 2021) qualifiziert. Damit kommen zwei der bisher sieben qualifizierten deutschen Olympia-Ringer aus dem Saarland. „Wir sind in einer Halle zusammen groß geworden und jetzt sind wir beide für die Olympischen Spiele qualifiziert. Das ist schon überragend", freut sich Cudinovic. Kinsinger rang nach seinem bisher größten Triumph auf der Matte dann auch noch um Worte: „Es ist unbeschreiblich. Das Ticket war gerade dabei, mir zu entgleiten und dann gelingt kurz vor Schluss so eine Aktion. Das ist einfach das Quäntchen Glück, das man bei sowas braucht. Ich bin überglücklich und kann es noch gar nicht richtig fassen."
„Wir sind zusammen groß geworden"
Etienne Kinsinger wusste schon vor seiner Abreise nach Ungarn, dass er „das beste Turnier seines Lebens ringen" und „einen absoluten Sahnetag erwischen" müsste, um sich seinen großen Traum zu erfüllen. Schließlich musste er sich erstmals in seiner Karriere für ein Herren-Finale qualifizieren. Und das nach einer Covid-19-Erkrankung im Dezember. Er sagte aber auch: „Es ist nicht unmöglich. Vielleicht muss man bei solchen Gelegenheiten etwas Besonderes aus dem Hut zaubern, was nicht alle Tage gelingt." Eine klare Vorahnung dessen, was im entscheidenden Kampf passieren sollte. Doch der Reihe nach: In der ersten Runde in der Klasse bis 60 Kilogramm griechisch-römisch setzte sich Kinsinger mit 5:4 gegen den Esten Helary Mägisalu durch, im Viertelfinale behielt er gegen den Kroaten Ivan Lizatović mit 8:2 klar die Oberhand. „Ich habe mich eigentlich nicht perfekt gefühlt, aber habe mich von Kampf zu Kampf immer mehr reingesteigert und wurde immer stabiler. Der Wille war mein größtes Plus." Und ein tierischer Geistesblitz: Genau 13 Sekunden vor dem Schlussgong im Halbfinale lag Kinsinger gegen Europameister Murad Mammadov aus Aserbaidschan mit 1:3 in Rückstand, als er zum sogenannten Eichhörnchen-Sprung ansetzte. Eine so seltene wie spektakuläre Technik, bei welcher der Gegner aus dem Stand übersprungen, umklammert und mit Hilfe des Flug-Schwungs umgerissen wird. Soweit die Theorie. „Ich bin in der Luft zwar auf halber Strecke hängengeblieben, aber ich konnte ihn zur Seite umreißen", berichtet Eichhörnchen Kinsinger, der dank seines perfekten Timings den erhofften Überraschungseffekt nutzen konnte, um den 1:3-Rückstand in eine 5:3-Führung zu verwandeln. Das hätte auch schiefgehen können: Riecht der Gegner den Braten, pflückt er das „Eichhörnchen" aus der Luft und sichert sich selbst die Punkte. „Es war kurz vor Schluss und ich habe gemerkt, dass ich mit meinem normalen Technik-Profil nicht mehr durchkomme. Dann bin ich volles Risiko gegangen", sagt Kinsinger. „Ich hatte ja nichts mehr zu verlieren."
Direkt nach dem Halbfinal-Sieg musste Kinsinger auf das Ergometer „Gewicht machen". Rund anderthalb Kilo mussten bis zum offiziellen Wiegen am nächsten Morgen rausgeschwitzt und verstoffwechselt werden. Bis dahin durfte der Sportsoldat weder trinken noch essen. „Das war nicht leicht, mir ging es in der Nacht nicht gut und ich konnte kaum schlafen. Aber es ist einfacher, wenn man weiß, dass man es für sein Olympia-Ticket tut", sagte er. Als die Waage schließlich 59,7 Kilogramm anzeigte, herrschte Gewissheit und aus quälender Anspannung wurde in einem Sekundenbruchteil maximale Erleichterung. Die 1:5-Niederlage im Endkampf um den Turniersieg gegen Kerem Kamal aus der Türkei geriet zur Nebensache.
„Ich wusste, dass ich das Ding schaukeln kann"
Bereits zwei Tage vor Etienne Kinsinger hatte Gennadij Cudinovic seinen Sahnetag. Der 27-Jährige überraschte die Ringer-Welt mit dem Finaleinzug bei den schweren Freistil-Jungs (bis 125 Kilogramm). Damit ist er seit Rolf Lacour 1972 (bis 48 Kilogramm) der erste Freistilringer aus dem Saarland, der an den Olympischen Spielen teilnehmen wird. Und das, obwohl er erst vor kurzem in die Schwergewichtsklasse gewechselt war und bis Januar wegen einer Schambeinentzündung nicht voll trainieren konnte.
Seinen Erstrunden-Gegner, José Cuba Vazquez aus Spanien, dominierte „Genna" mit 12:1 deutlich. Im folgenden Viertelfinale hatte auch Paris Karepi aus Albanien keine Chance gegen den gebürtigen Kasachen. 5:0 hieß es am Ende. Im Halbfinale wartete schließlich Jamaladdin Magomedov aus Aserbaidschan. Für Cudinovic ging es im bislang wichtigsten Kampf seiner Karriere gegen den erfahrenen Vize-Weltmeister von 2015 um alles oder nichts. Trotzdem war es gerade die Nervenstärke des Sportpolizisten aus dem Saarland, die am Ende den Ausschlag gab: Aus einem frühen 0:4-Rückstand machte er bis zur Pause eine 8:6-Führung. „Ich wusste schon beim Rückstand, dass ich das Ding heute schaukeln kann", verrät Cudinovic rückblickend und erklärt: „Ich habe seine Schwäche erkannt und ausgenutzt. Dabei habe ich nicht schön und auch nicht technisch gerungen, sondern einfach Dampf gemacht." Magomedov konnte Cudinovics Tempo in der zweiten Runde nicht mitgehen, schwächelte sichtlich. Cudinovic nutzte dies gnadenlos aus und baute seine Führung auf 15:6 aus. Knapp zwei Minuten vor dem Ende kassierte Magomedov die dritte Verwarnung und wurde disqualifiziert. Also das Gegenteil von dem, was „Genna" in der gleichen Sekunde geschafft hatte: die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Tokio. Auch seine Endkampf-Niederlage bleibt nur eine Randnotiz. Gegen den Weißrussen Dzianis Khramiankou gab er beim Stand von 0:1 verletzungsbedingt auf.
So sensationell die Nachricht, so tiefenentspannt Cudinovics Umgang damit. „Realisiert habe ich es schon. Neben der Matte sind alle in Tränen ausgebrochen. Aber mich hat es emotional nicht so stark getroffen", sagt er und berichtet: „Als mich meine Freundin in Empfang genommen hatte, war die völlig hysterisch. Wir sind dann zu meinem Trainer Andriy Shyyka gefahren. Er hat sich riesig gefreut und auch seine Frau war total neben der Spur." Die ersten Reaktionen aus seinem persönlichen Umfeld schienen den 27-Jährigen fast schon zu verwundern. Auf die berechtigte Frage der Trainergattin, wie er denn nur so ruhig bleiben könne und ob er überhaupt schon verstehe, was ihm da gelungen sei, antwortete der gechillte 107-Kilo-Mann: „Jo. Keine Ahnung. Ich habe mir jetzt einen Traum erfüllt und bin ein Stück weit schon froh. Es ist schon was Besonderes, aber ich mache mir da jetzt keinen großen Kopf oder so. Es wird sich erst einmal nicht viel ändern." Abgesehen vom neuen Eintrag im Terminkalender, der vom 23. Juli bis zum 8. August 2021 reicht.