Erst wenn auch die ärmeren Länder geimpft sind, ist die Pandemie besiegt
In Europa kommt der Impfzug nur langsam in Bewegung. Die Lokomotive stottert, die Waggons ruckeln. Und dennoch haben in Deutschland noch viele die Hoffnung, dass bis Mitte September jeder, der will, ein Impfangebot erhält. So hat es Bundeskanzlerin Angela Merkel versprochen und die Zusage trotz der Turbulenzen um mögliche Nebenwirkungen des Präparats von Astrazeneca nicht kassiert.
Das Problem: Selbst wenn Deutschland mit einer Impfquote von rund 67 Prozent Herdenimmunität erreicht, ist damit die Pandemie nicht besiegt. Denn die armen Länder hinken derzeit hoffnungslos hinterher. Dort fehlt es an Impfstoff, Tests und Masken. Das Virus kann sich unbegrenzt ausbreiten. Mit der Gefahr, dass sich Mutanten entwickeln, die gegen die Vakzine resistent sind. Damit steigt das Risiko, dass noch aggressivere Erreger durch die Hintertür – via Urlaubs- und Geschäftsreisen sowie Handel – nach Europa kommen. Die globalisierte Welt sitzt in der Corona-Falle.
International tätige Hilfsorganisationen warnen davor, sich nur auf das eigene Land zu fixieren. „Nationalistische Impf-Strategien werden nicht dazu beitragen, dass die Pandemie schnell eingedämmt wird. Dadurch werden Menschen an wenigen Orten schneller geimpft, während man aber weltweit nur langsam oder gar nicht vorankommt", sagt Elisabeth Massute, politische Referentin bei Ärzte ohne Grenzen. „Die entscheidende Frage muss sein: Wie können wir Menschen weltweit retten und schützen? Gerade, weil wir auch die Gefahr von Mutationen haben, die in die reichen Länder zurückkommen können."
Bisher geben drei Mutationen Grund zur Beunruhigung: B.1.1.7 (Großbritannien), B.1.351 (Südafrika) sowie P.1 (Brasilien). Vor allem die britische Coronavirus-Mutation soll nicht nur ansteckender, sondern auch tödlicher sein als der Ursprungserreger. Sie macht laut Robert Koch-Institut bereits weit mehr als 70 Prozent aller Neuinfektionen in Deutschland aus. „Es wird mit Sicherheit nicht bei den drei jetzt diskutierten Mutationen bleiben, in NY entwickelt sich z.B. gerade eine weitere gefährliche Variante. Es überrascht daher, wie langsam Impfung in den ärmsten Ländern forciert wird", mahnt der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach auf Twitter.
Verschärft werden die Pandemie-Gefahren durch ein globales Ungleichgewicht zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Die EU hat sich zum Beispiel so viele Präparate gesichert, dass sie die eigene Bevölkerung dreimal durchimpfen kann. Bei den Entwicklungsländern herrscht hingegen Ebbe. Die internationale Allianz Covax, die von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mitgegründet wurde, verteilt Impfstoffe an ärmere Länder zu günstigen Preisen oder umsonst. Doch in vielen Regionen Afrikas, Lateinamerikas und Ostasiens hat der Impfprozess noch gar nicht begonnen.
Die Online-Publikation Our World in Data, die an der Universität Oxford angesiedelt ist, zeigt für Afrika ein ernüchterndes Bild. Die Karte des Kontinents besteht aus vielen weiße Flecken mit gar keiner oder sehr geringer Impfaktivität. In Südafrika, wo die gefährliche Mutante B.1.351 wütet, bekamen gerade mal 0,3 Prozent der Bevölkerung zumindest eine Dosis. In Deutschland, wo bislang im Schneckentempo geimpft wird, erhielten 8,6 Prozent der Menschen die erste Dosis. Sorge bereitet den Medizinern insbesondere, dass in Afrika verschiedene hoch ansteckende Virusmutationen unterwegs sind.
In Lateinamerika ist die Lage vor allem in den bevölkerungsreichsten Ländern Brasilien und Mexiko düster. In Brasilien nimmt die Krise immer dramatischere Ausmaße an. Präsident Jair Bolsonaro bremst
weiterhin national koordinierte Bestrebungen aus, zudem wird der Impfstoff knapp. Epidemiologen warnen bereits, Brasilien sei „eine Gefahr für die globale Gesundheit". Nur 4,8 Prozent der Bevölkerung haben die erste Impfdosis bekommen. In Mexiko beträgt der
Anteil 3,8 Prozent.
Hilfsorganisationen machen sich dafür stark, dass reiche Länder vorübergehend die Patente auf Corona-Impfstoffe aussetzen. „Nur wenn auch in Afrika, Asien und Lateinamerika Impfstoffe produziert werden, kann es gelingen, alle Menschen zu schützen", erklärt Dagmar Pruin, Präsidentin von Brot für die Welt. Doch bislang haben Länder wie die USA, Großbritannien, Japan oder die Schweiz den Vorstoß blockiert.