Professor Markus Otto, Spezialist für die Umgestaltung von Industriebrachen, kümmert sich ehrenamtlich um die Erhaltung von Industriedenkmälern, zum Beispiel der Völklinger Hütte. Im Interview spricht er unter anderem über Lösungen für fehlenden Wohnraum.
Herr Prof. Markus Otto, Sie lehren an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg das Fachgebiet „Planen in Industriefolgelandschaften", was muss ein Bereichsfremder darunter verstehen?
Wir betrachten an der BTU die Lausitz als Reallabor für die Transformation der Industrieökonomie. Nach dem Niedergang der Textilindustrie und der starken Reduzierung der Arbeiterschaft im Bereich der Bergbau- und Energiewirtschaft unmittelbar nach der Wende steht nun mit dem Ausstieg aus der Kohleindustrie ein weiterer radikaler Umbruch bevor. Zahlreiche leer stehende Fabriken und Werkssiedlungen einschließlich der Plattenbausiedlungen sowie industrielle Brachflächen in der deutsch-polnischen Grenzregion sind Zeichen dieses tiefgreifenden Strukturwandels. Und sie werfen Fragen zu Nachnutzungsmöglichkeiten und Umbaustrategien auf. Damit sind sie Indikatoren wirtschaftlicher Veränderungsprozesse, die mit Abwanderung, demografischen Verschiebungen und ökonomischen Rückschritten verbunden sind. Gleichzeitig stellen sie aber auch ein bisher ungenutztes Potenzial zukünftiger Entwicklungen dar. Die Bauten und ihre Umgebung können als wertvolle Ressource aufgegriffen und als chancenreicher Bestandteil zukünftiger Planungsstrategien verstanden werden. Das Fachgebiet Planen in Industriefolgelandschaften widmet sich dem Studium und der Forschung in den Bereichen Architektur, Städtebau und Kulturerbe.
Sie als Saarländer sind ja im Umbruch von Stahlindustrie und Bergbau groß geworden und haben nach Ihrem Studium an den Umstrukturierungen von Industriestandorten wie der Völklinger Hütte zum Beispiel als Industriedenkmal oder auch der St. Ingberter „Alten Schmelz" maßgeblich teilgenommen. Ähnliche Veränderungen erlebten die Neuen Länder im Osten der Republik mit dem Tage-Bergbau. Welche Parallelen gibt es in der Neugestaltung dieser Industrielandschaften zu sehen?
Die Parallelen bestehen in der Radikalität des wirtschaftlichen Umbruchs. Es gab in beiden Regionen eine über hundert Jahre währende industrielle Entwicklung, die zwar immer wieder Krisen zu bewältigen hatte, die tendenziell aber von stetigem Wachstum und Produktionssteigerung geprägt war. Dies bedingte auch die Mentalität der Bevölkerung, in der ein solch wirtschaftlicher Niedergang undenkbar war. Die Krise traf daher die Menschen in der Industrieregion unvorbereitet. Ebenso waren die Werkzeuge der Stadt- und Regionalplanung auf die durch die Krise ausgelösten Abwanderungen und Schrumpfungsprozesse nicht vorbereitet. Hier mussten neue Planungsstrategien entwickelt werden wie die Programme zum Stadtumbau.
Mit Ihren Studierenden unternehmen Sie auch Exkursionen in den deutsch-französischen Grenzraum Saar-Lor-Lux. Auch da vollzieht sich seit Langem ein Wandel. Sehen Sie auch hier aktuelle Probleme in der Regional- und Städteplanung?
Die Exkursionen in die Region Saar-LorLux dienen dazu, die unterschiedlichen stadt- und regionalplanerischen Ansätze in den benachbarten Ländern auf engem Raum verstehen zu lernen und damit die unterschiedlichen Planungskulturen mit ihren Vor- und Nachteilen zu vergleichen. Das hilft den angehenden Planerinnen, eine größere Bandbreite von Planungswerkzeugen kennenzulernen und einen eigenen Standpunkt zu entwickeln. Hinzu kommt, dass diese Großregion Avantgarde in der grenzüberschreitenden Regionalplanung ist. Die geplante Internationale Bauausstellung IBA der Großregion könnte hier einen wesentlichen Beitrag zur Weiterentwicklung unserer Region leisten.
Was muss getan werden, um den Ansprüchen einer zunehmenden Bevölkerung mit immer mehr Flächenbedarf an Wohnraum gerecht zu werden?
Die Regionen, in denen ich mich mit städtebaulicher Entwicklungsplanung beschäftigt habe, sind in der Regel von Strukturwandel, Stagnation und Bevölkerungsverlusten gekennzeichnet. Auch hier wächst der individuelle Flächenbedarf an Wohnraum. Hinzu kommt, dass die Bauherren sich in der überwiegenden Mehrheit immer noch ein Einfamilienhaus auf der „grünen Wiese" wünschen. Diesen Bedürfnissen kommen die Gemeinden immer noch nach, obwohl allen bewusst ist, dass die Zersiedlung unserer Landschaft eigentlich gestoppt werden müsste. Hinzu kommen innerörtliche Leerstände sowohl auf dem Land als auch in den Städten, die nicht genutzt werden. Dieser Trend wird sich durch weitere Leerstände bei Büro- und Geschäftshäusern durch die Digitalisierung noch erheblich verstärken. Ich sehe aber auch inzwischen einen Bewusstseinswandel, gerade bei der jüngeren Bevölkerung. Projekte, wie die Artilleriekaserne in Saarbrücken-St. Arnual sind positive Beispiele. Aber wir müssen noch einen Schritt weitergehen. Die Umnutzung der innerörtlichen baulichen Strukturen, ohne diese abzureißen und durch Neubauten zu ersetzen, ist eine spannende Zukunftsaufgabe. Diese Planungsstrategie, die mit dem Begriff des „Urban Mining" bezeichnet wird, kann die Innenstadt und Dorfmitte aufwerten und zugleich unseren ökologischen Fußabdruck minimieren. Das Bauen ist zurzeit für circa 40 Prozent der CO2-Emmission verantwortlich. Wenn wir die Ziele des Pariser Abkommens erreichen wollen, müssen wir neue Wege gehen.
Wie in einigen Gebieten des Saarlandes, in denen Industriestandorte einst die Landschaft prägten, man nenne in diesem Zusammenhang auch die Stahlstadt Neunkirchen, erlebte 2008 die Tuchmetropole Cottbus den Niedergang der ehemals florierenden Textilindustrie. Wie hat sich die Stadt seit der Wende verändert?
Die städtebauliche Entwicklung in Cottbus der Nachwendezeit hat Licht- und Schattenseiten. In den ersten Jahren nach der Wende lag die innerstädtische Entwicklung im Fokus. Sowohl die Wiederbelebung der Altstadt als auch der gründerzeitlichen Weststadt mit ihrem Jugendstiltheater war sehr erfolgreich. Hierbei wurde der öffentliche Raum hochwertig gestaltet und die bestehende historische Bebauung mustergültig saniert. Auch in der Umgestaltung der Plattenbausiedlungen im Rahmen der internationalen Bauaustellung IBA Fürst-Pückler-Land wurden innovative Wege beschritten. Nach 2000 fand aber ein Paradigmenwechsel statt. Die geschichtsträchtigen Zeugnisse der Textilindustrie wurden fast ausnahmslos niedergerissen. Die innenstadtnahen Gebiete werden heute durch Brachen, Parkplätze und mediokre Bebauung geprägt. Auch die mustergültige Bebauung der Stadtpromenade aus den 60er-Jahren der DDR wurde trotz Unterschutzstellung der Denkmalpflege abgebrochen und durch ein schäbiges Einkaufszentrum für Discounter ersetzt. Bedeutende Teile der Cottbuser Baugeschichte wurden somit ausgelöscht. In Saarbrücken ist eine ähnliche Planungsgeschichte zu beobachten. Heute noch zehren wir von den visionären Planungen des Baudezernenten Niedner und der Oberbürgermeister Lafontaine und Hoffmann. Seitdem gibt es in Saarbrücken keine vorauschauende Planung mehr, es wird nur noch reagiert. Die kurze positive Entwicklung unter Rena Wandel-Höfer wurde leider politisch ausgebremst.
Nach wie vor pendeln Sie wöchentlich zwischen Saarbrücken und Cottbus. Haben sich nach 30 Jahren vereinigtem Deutschland die Menschen in Ost und West angenähert?
Die ersten Jahre nach der Wende waren von Neugier geprägt. Der Austausch zwischen den beiden Partnerstädten Saarbrücken und Cottbus war sehr fruchtbar. Jedoch mit dem Zusammenbruch der Textilindustrie und der Massenentlassung durch die Umstrukturierung der Kohle- und Energieindustrie änderte sich die Stimmung erheblich. Dass führende Stellen in Politik und Wirtschaft von Westdeutschen besetzt waren, führte verständlicherweise zu erheblichen Ressentiments und das konnte ich persönlich erleben. Das spielt aber heute kaum mehr eine Rolle. Inzwischen ist eine Generation herangewachsen, die die beiden deutschen Staaten gar nicht mehr erlebt haben. Dennoch gibt es natürlich zwischen den preußischen Brandenburgern und den katholischen „Saarfranzosen" Mentalitätsunterschiede.
Was hat sich in der städtebaulichen Entwicklung der Landeshauptstadt Saarbrücken getan? Auch hier wird Wohnraum immer begrenzter. Geht der Trend wie in vielen Städten in die Vertikale, möglicherweise auch in „Green Building Envelopes", also in begrünte Fassadenlandschaften?
Dass Wohnhochhäuser die Lösung der Wohnungsnot sein sollen, möchte ich infrage stellen. Wohnen, insbesondere von Familien, erhält seine Qualität durch nachbarschaftliches Miteinander. Das ist in Hochhäusern, auch mit grünen Fassaden, schwer zu erreichen. Dass wir von monofunktionalen Einfamilienhausgebieten wegkommen müssen, ist klar. Verdichtete Wohnquartiere mit weniger Wohnflächen pro Bewohner, dafür mehr Gemeinflächen für alle Generationen, können ein Ausweg sein. Weiterhin müssten in diesen Siedlungen Räume für die wirtschaftliche Entfaltung der Bewohner mitgedacht werden, um zu einer neuen Nutzungsmischung zu kommen.