Dr. Gisela Höhne gründete 1991 das Berliner Theater Rambazamba. Alle Schauspieler sind körperlich oder geistig behindert. Im Interview spricht die 72-Jährige über ihre Anfänge mit einem Zirkus und wie ihr Sohn ihr Leben veränderte.
Frau Höhne, wann haben Sie das erste Mal gespürt, dass das Schauspiel Ihre Berufung ist?
Ich habe in meiner Kindheit immer schon wahnsinnig gern gespielt, mit den anderen Kindern im Hof, Puppentheater mit meiner Mutter. Das waren fantasievolle Reisen in ein anderes Universum. Später, im „Dramatischen Zirkel" in Stralsund, stand ich das erste Mal auf einer Bühne, und ich habe gespürt, was für einen Spaß es macht, das Publikum zu erreichen, schon durch die Art des Sprechens. Das war ein intensiver, schöner Zustand. Eigentlich wollte ich Psychologie studieren, aber in der DDR erfüllte ich dafür nicht die politischen Voraussetzungen. Mit 22 Jahren habe ich dann an der Staatlichen Schauspielschule in Berlin meine Ausbildung begonnen. Zum Ende des Studiums lernte ich meinen Lebensgefährten kennen, ich hatte mein erstes Engagement in Dresden, alles war gut. Aber dann wurde unser Sohn Moritz geboren.
Als Sie erfuhren, dass Moritz mit dem Downsyndrom lebenslang behindert sein würde – stürzte da der Himmel über Ihnen ein?
Ich war 27, wir hatten überhaupt nicht damit gerechnet. Ich dachte, alles Schöne im Leben wäre zu Ende und dass ich auch meinen Beruf nicht mehr würde ausüben können. Ein Leben als Krankenschwester. Überlegungen, ob beides möglich wäre: Moritz zu betreuen und weiter als Schauspielerin zu arbeiten oder eine mögliche Heimunterbringung, beendete Professor Müller in Herzberge, ein guter Arzt und Kunstliebhaber. Er sprach ohne moralisierenden Unterton Klartext. Natürlich könnten wir – wenn es überhaupt einen Platz geben würde – unseren Sohn in ein Heim geben. Aber Moritz würde sich anders und gewiss nicht so gut entwickeln. Damit war die Entscheidung gefallen. Moritz bleibt bei uns. Er ist unser Kind, wie lieben ihn und werden alles für ihn tun. Ich habe noch eineinhalb Jahre versucht, Theater zu spielen, aber die Entscheidung war unausweichlich: Familie oder Theater? Moritz war wichtiger. Unser zweiter Sohn wurde geboren, und ich habe dann an der Humboldt Universität noch Theaterwissenschaft studiert.
Sie waren die erste, die 1991 ein Theaterensemble mit Schauspielern mit einer geistigen Behinderung gründete. Gemeinsam mit anderen spielen Sie seitdem erfolgreich Theater. Ihr zweiter Sohn leitet heute das Rambazamba. Man vermutet Betroffenheit, Mitleid und therapeutische Absicht.
Für mich gab es zwei Impulse. Am Anfang stand die schlechte Förderung von Moritz und seinen Freunden in der Tagesstätte. Und dann sah ich zufällig einen Film über die Zusammenarbeit von Schauspielern und Tänzern mit und ohne Behinderung in England. Ich wusste sofort: Das ist es! Kunst und Behinderung schließen sich nicht aus. Gegen viele Widerstände habe ich einen Zirkus auf die Beine gestellt. Ich wollte zeigen, dass auch diese Kinder etwas können und Zirkus war der künstlerische Rahmen. Jeder hat im Rahmen seiner Möglichkeiten eine Nummer erarbeitet und ich sah: Jeder konnte etwas, hatte Fantasie. Und ich wusste, dass das ein Schatz war und wir da mehr machen könnten, wenn wir diesen Menschen etwas zutrauen und ihnen Förderung anbieten. Das war noch vor der Wende. Und danach haben wir den Verein Sonnenuhr gegründet und ab 1991 mit der künstlerischen Arbeit begonnen: Theater, Fotografie, Malerei. Ich inszenierte mein erstes Stück, das gleich im Deutschen Theater Premiere hatte. Es gab viel Unterstützung und Solidarität. Nach zehn Jahren erhielten wir als erstes integratives Theater dauerhafte Theaterförderung. Es geht bei Rambazamba um professionelle Arbeit und Ausbildung für Schauspieler mit einer Beeinträchtigung gemeinsam mit anderen und nie um Behindertenarbeit oder therapeutisches Theater. Solche Wörter kommen bei uns gar nicht vor. Wer bei uns auf der Bühne steht, muss spielen wollen, hart arbeiten, gruppenfähig sein, Anweisungen akzeptieren und auch Kritik ertragen können.
Es geht also nicht um die anrührende Vorstellung von Defiziten oder eine Kopie des Normalen.
Das Rambazamba ist ein Theater wie andere, wir spielen unter anderem Bearbeitungen von Shakespeare oder von Themen, die die ganze Gesellschaft betreffen, Liebe, Ausgrenzung und Einsamkeit, Geburt und Tod, Träume und Ängste, Themen, die alle bewegen. Das kommt aber in eine Form, die den Begabungen und Sichtweisen unserer Schauspieler entspricht, und dadurch öffnen sich neue Horizonte. Letztlich ist es wie bei jeder Theaterarbeit: Es geht darum, großartige Schauspieler auf der Bühne zu erleben, die kompetent sind und uns etwas auf ihre besondere Weise erzählen. Unsere Schauspieler bewegen sich vielleicht anders, sie sprechen nicht schnell, sind mitunter schwerer zu verstehen. Dafür spielen sie mit größter Intensität und einem besonderen Ausdruck. Wir machen kein Betroffenheitstheater. Nach der Vorstellung sind die Zuschauer meist voller Bewunderung. Sie staunen über die Fähigkeiten aller Schauspieler, sie sind berührt, nicht gerührt. Von Behinderung ist keine Rede mehr.
Man hat den Eindruck, dass Sie etwas allergisch auf Mitleid reagieren.
Diese Mitleidshaltung kommt ja aus der Gesellschaft: Da ist jemand nicht so wie wir, sein Leben ist minderwertiger als unseres, die brauchen unser Bedauern. Das führt aber oft dazu, dass die Menschen mit Behinderung in ihrem angeblichen Leid bestätigt und zementiert werden. Aber in Wirklichkeit führen Moritz und all die anderen ein reiches Leben, sie sind glücklich, traurig, zufrieden, gereizt. Menschen mit Downsyndrom sind nicht einmal krank, sie sind nur anders und uns emotional oft überlegen. Wir sollten sie akzeptieren, wie sie sind, ihr Anderssein als Bereicherung schätzen, ihre Selbstbestimmung, ihre Alltagssituation und Förderung unterstützen. Es muss normal sein, dass sie in unsere Gesellschaft gehören. Die schleppt man nicht irgendwie mit, sie bereichern uns.
Das sehen viele nicht so. Pränatale Diagnostik während der Schwangerschaft, Abtreibung – im öffentlichen Leben sieht man immer weniger Menschen mit Downsyndrom.
Die Entwicklung geht dahin. Das Problem wurde leider durch die letzten Entscheidungen total individualisiert, sozialethische Überlegungen und Zusammenhänge kommen nicht mehr vor. Eine Frau, die glaubt, einem Leben mit einem behinderten Kind nicht gewachsen zu sein, verurteile ich nicht. Sie ist ohnehin überfordert, so entpolitisiert, wie die Dinge jetzt diskutiert werden. Es gibt so viel im Leben wo man denkt, es sei nicht zu schaffen. Aber woher wollen wir das vorher wissen? Es wäre besser, die betroffenen Frauen würden anders aufgeklärt und unterstützt. Eine Abtreibung wegen der Behinderung des Kindes dürfte es nicht geben. Es gibt auch immer noch die Möglichkeit, das Kind zur Adoption freizugeben. Ich glaube, dass Menschen mit einem Downsyndrom wichtig für uns sind. Sie ermöglichen uns einen anderen Blick auf die Dinge und fordern uns heraus zu prüfen, was wirklich wichtig ist. Sie sind ein wichtiger Spiegel. Unsere Gesellschaft verliert etwas, wenn sie nicht mehr da sind.
Leiden die Rambazamba-Schauspieler besonders in Corona-Zeiten?
Wie alle anderen Künstler und Schauspieler auch, da sie nicht spielen und kein Publikum haben. Schauspieler brauchen Publikum, was sonst? Sie proben unter Hygienebedingungen, filmen und machen Grundlagenarbeit, aber jetzt sind sie leider noch unsichtbarer.
Sie schreiben an einem Buch, und es ist nicht einfach einen Verleger zu finden. Worum geht es?
Ich blicke auf mein Leben. Meinen Traum, Schauspielerin zu werden. Und wie alles anders kam als gedacht. Und dass mein behindertes Kind mich wieder zurück zum Theater geführt hat. Und dass es möglich ist, wieder Mut zu fassen. Davon handelt es.