Der Kampf gegen die Pandemie soll nicht zu Stillstand in der europäischen Entwicklung führen. Bürger-Konferenzen sollen den weiteren Kurs der Europäischen Union bestimmen.
Der 9. Mai wird jedes Jahr als Europa-Tag gefeiert. Vor 70 Jahren hatte der französische Außenminister Robert Schumann an diesem Tag die legendäre Rede zur deutsch-französischen Aussöhnung und zur europäischen Einigung gehalten. Die Schumann-Erklärung war visionär und geradezu revolutionär. Von der Vergemeinschaftung der Schlüsselindustrien Kohle und Stahl bis zu einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft reichten die Vorschläge. 70 Jahre später, am 9. Mai 2021, soll erneut ein Anlauf genommen werden, um die Zukunft des Kontinents zu definieren. Im Plenarsaal des Europäischen Parlaments in Straßburg wird die „Konferenz zur Zukunft Europas" aus der Taufe gehoben. Während in all den Jahrzehnten die Regierungen die Etappen der europäischen Integration beschlossen, sollen diesmal die Impulse von den Bürgerinnen und Bürgern aus den 27 Mitgliedsländern der EU kommen.
Die Idee zu dieser Konferenz stammt aus der vielbeachteten Rede des französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Schloss von Versailles vor drei Jahren. Er forderte nichts weniger als die Fähigkeit zur europäischen Souveränität in verschiedenen Politikbereichen, getragen vom Willen der Menschen in der EU. Es dauerte lange, bis sich die Regierungen einigen konnten, grünes Licht für das Experiment einer Europäischen Bürger-Konferenz zu geben.
Die Erwartungen an die Konferenz sind nach wie vor breit gestreut. Die einen hoffen auf den Durchbruch für ein europäisches Grundgesetz, die anderen wollen nur Bürger-Meinungen über aktuelle Politikthemen hören. Dieser Wettstreit wird noch spannend.
Nach langem hin und her ist die Führung der Konferenz geregelt: Die drei Präsidenten der Europäischen Institutionen Parlament, Kommission und Rat werden gemeinsam und auch abwechselnd die Debatten leiten, die im Frühjahr 2022 mit konkreten Vorschlägen für den weiteren Kurs der EU enden soll.
Europa steht vor vielen Herausforderungen. Was muss geschehen, damit die EU in Krisen wie der Corona Pandemie widerstandsfähiger und leistungsfähiger wird? Was ist der europäische Weg im Umgang mit dem Internet, seinen Chancen und Gefahren? Wie kann Europa die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit mit der ökologischen Nachhaltigkeit verbinden? Was ist zu tun, um der Jugend in Europa eine exzellente Bildung und Ausbildung zu ermöglichen? Wie bewältigt der Kontinent den demografischen Wandel? Wie schützen wir unsere Werte und Interessen in einer teils feindlichen und chaotischen Welt? Neben den großen Themen gibt es eine Vielzahl von Alltagsproblemen mit Europabezug, die diskutiert werden müssen.
Neue Konturen für ein Europa der Bürger
Wie soll die Europäische Bürger-Konferenz ablaufen? Auf Online- und Offline-Plattformen sollen alle Menschen in der EU die Möglichkeit bekommen, ihre Ideen einzubringen. Ganz wichtig: Jeder kann in seiner Muttersprache schreiben und reden. Die Vorschläge werden von der Konferenzleitung gesichtet, kategorisiert und zur Diskussion gestellt. Neben der Wortmeldung einzelner Bürger und Bürgerinnen sollen zusätzlich Citizens Agoras gebildet werden. Nach dem Zufälligkeitsprinzip werden mehrere Hundert Menschen aus allen Teilen der EU zusammenkommen, um spezifische Themen zu debattieren und entsprechende Vorschläge an das Plenum der Konferenz zu machen.
Europa soll mehr denn je von unten nach oben aufgebaut werden. So ist der Wunsch, dass die Kommunen, die Städte und Regionen sich aktiv an dieser Bürger-Konferenz beteiligen. Bürgermeister, Kreistage oder Landesparlamente können für ihre Region öffentliche Veranstaltungen organisieren und die Vorschläge der Bevölkerung zur zukünftigen Gestaltung der EU in den Konferenzmodus einbringen. Es wird interessant sein zu sehen, ob besonders Grenzregionen wie Saar-Lor-Lux die Chance nutzen.
Alle Vorschläge werden im Plenum erörtert. Dort kommen Vertreterinnen und Vertreter der Nationalen Parlamente, des Europa-Parlaments, der Kommission und des Rates zusammen, wie auch der Zivilgesellschaft, um ein Manifest für die Zukunft der EU zu verabschieden. Der Kurs für dieses Jahrzehnt bis 2030 wird damit abgesteckt.
Mit 450 Millionen Einwohnern ist die EU zwar ein imposantes politisches Gebilde. Trotzdem sind wir nur etwa sieben Prozent der Weltbevölkerung. Unsere Art zu leben, ist in der Welt des 21. Jahrhunderts nur zu erhalten, wenn die Europäer eine gemeinsame Vorstellung von ihrer Zukunft haben. Wenn die Europäischen Bürger-Konferenzen einen solchen Konsens herstellen könnten, hätte sich dieses Experiment gelohnt!