Wer in der Übergangszeit zum Frühling konsequent regional kochen möchte, landet zumeist bei erdigen Kohl-, Wurzel-, und Knollengemüsen. Und die sind köstlicher als ihr Ruf.
Viele Köche der gehobenen Küche haben der lange Zeit als unsexy geltenden Gemüsefamilie längst einen festen Platz eingeräumt. Sie ergänzen das regionale Kochrepertoire vielseitig und entfalten ein erstaunlich aufgefächertes Kaleidoskop an Geschmacksnuancen. In ihrer Evolutionsgeschichte zählen die Wurzelknolligen zu den weltweit ältesten Gemüsearten. Früher wurden die derben Knollen und fasrigen Wurzeln in Europa oft als grobes Gemüse verkannt und landeten vom Teller auch gern mal im Tiertrog. Die Kochstätten der Griechen und Römer waren den Europäern wieder einmal voraus: Neben der Sellerie wanderten Petersilienwurzel oder Kohl bereits in die Kochgefäße. Auch Kelten, Germanen oder Wikinger wussten die feinen Grobiane zu schätzen.
Im Mittelalter wuchs und gedieh unter höchst spiritueller Obhut bereits der große Winterknollenklassiker – die Pastinake, auch Hirschhornmöhre genannt – in den Klostergärten. Im 13. Jahrhundert wurden weitere Rüben angebaut. Bis zum 19. Jahrhundert gehörten sie zu den Grundnahrungsmitteln. Als schick galt die von französischen Einwanderern um 1616 aus Nordamerika importierte Topinambur-Knolle. Da diese Delikatesse geschmacklich an eine Artischocke erinnert, wurde sie später auch als Erdartischocke betitelt.
Doch dann kam die große Konkurrentin: Die Kartoffel – 1560 von spanischen Seefahrern nach Europa gebracht – wurde erst als Zierpflanze, dann als sättigende Basisbeilage entdeckt. Friedrich von Preußen förderte sie kartoffelverknallt als seine Pomme de Fritz. Très à la mode am Hofe von Sanssouci, verdrängte sie ihre erdigen Kolleginnen und wurde zur allgemeinen Volksspeise. In den Weltkriegen sollte sie die Menschen in Deutschland vor dem Verhungern bewahren. Aber es kam anders: Aufgrund der schlechten Kartoffelernte dieser kriegsgeprägten Jahre schaffte es ein aus der Not heraus zum menschlichen Verzehr transformiertes „Viehgemus" auf die deutsche Speisekarte. Die „ostpreußische Ananas", auch unter dem vor Sinnlichkeit strotzenden Namen „Gemeine Kohlknolle oder Steckrübe" bekannt, wurde als Kreuzung von Kohlrabi und Rübe zum Grundnotnahrungsmittel in allerlei Formaten.
Ob als Salat, Suppe, Sirup, Kuchen oder Rübenkaffee mutierte sie zum festen Bestandteil der Gemüseeintöpfe. Es gab sogar eine Verordnung zu sogenannten Eintopf-Sonntagen. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte der Überdruss: Alles Kohl- und Steckrübige, das an die Eintönigkeit schlechter Kriegszeiten erinnerte, wurde Jahrzehnte lang vom Speiseplan verbannt. Erst seit einer guten Dekade schafften es die alten Knollen- und Wurzelsorten wieder ins Licht der Aufmerksamkeit. Sie landeten ebenso im heimischen Topf wie auf der gehobenen Restaurantkarte.
So auch ins aktuelle Frühlingsmenü des „Schüsseldienst" – ein Fine-Dining-in-Schalen-Konzept-Imbiss im Schöneberger Akazienkiez. Der Berliner Spitzenkoch Felix Mielke, der zuvor 15 Gault-Millau-Punkte schwer viele Jahre im Gourmetrestaurant „Le Faubourg" das Zepter geschwungen hatte, hat dem Wurzelgemüse gar einen Hauptgang gewidmet. Beim Gericht „Junges Gemüse" finden gebackene, bunte Rübchen, Petersilienwurzel und Steckrübe in die feinen Bowles. Eine Marinade aus sehr dunkel gerösteten Zwiebeln, Tomaten und Sojasauce säumt die Geschmackstiefe. Ein homöopathischer Hauch von Zucker treibt die Süße leicht karamellisierend aus den Poren. Wurzelgemüse-Chips aus Roter Bete, Karotte und Sellerie knuspern wie ein Crumble obenauf. Und von unten wird das gestandene Multigeschmacks-Gemüsepaket cremig weich von einer Mousse aus Karottenpüree, Haselnuss, Linse und Senf gebettet. Mit zart rot geädertem Mangold-Blättchen-Salat mit Balsamico-Dressing und ein paar Klecksen Ingwer-Crème-Fraîche sind sowohl Taste wie Textur parametriert.
Textur bestimmt den Geschmack
Kurz: An dieser Wurzelknollen-Sinfonie lässt sich beweisen, eine Beilage kann auch ohne Beilage zum orchestralen Hauptstück werden. „Für Vegetarier ist hier alles drin", sagt der Küchenchef, der nichts von Fleischersatz oder Tofu hält. Von umami über erdig, nussig, süß, salzig, mineralisch oder auch bitter spannt sich der Reigen. Auch die Blätter des Karottengrüns werden bei Mielke zu Pasten und Pesto verarbeitet oder in Salat gezupft. Und „Mixed Pickles" und Fermentiertes – als Technik der Vorfahren – habe eine Renaissance erfahren. Ein Beispiel für das Aromen-Universum biete die ebenso süße wie charakterstarke Kohlrübe. Die Textur bestimme den Geschmack. So komme beim Backen das Süße, beim Garen das Kohlige zu Tage. Ein Lieblingsgericht seiner Gäste ist eine Steckrübensuppe mit Mandarine und Steinpilzöl.
Alle Gemüse finden sich bis in den April hinein auf den Wochenmärkten. „Ein Revival erfährt zurzeit die Schwarzwurzel", erzählt Stefan Siegeris, der mit seinem Vater Horst – ein LPG-Bauer der alten Schule – seit 25 Jahren in Friedenau und Schöneberg sein Brandenburger Obst und Gemüse verkauft. Der „Winterspargel" oder „Spargel des armen Mannes" schmecke klassisch gekocht mit Hollandaise, vorzüglich aber auch gebraten oder frittiert. Aber Achtung: Schwarzwurzeln bluten. Die „Milch", die beim Schälen austritt, färbt die Hände schwarz. Haushaltshandschuhe sind daher bei der Verarbeitung angesagt.
Richtig weltberühmt seien auch die märkischen Teltower Rübchen – klein, bauchig mit feinen Wurzelhärchen liegen sie in der Kiste. Geboren wurden sie in sandigem Boden südlich von Berlin. Bei der Sellerie, die er wie einen Miniplaneten voller Krater und Mulden in der Hand hält, kommt Horst ins Schwärmen: „Meine wachsen auf Rindermist vom Biobauern. Nicht umsonst wird die Mark Brandenburg auch als Streusandbüchse geneckt. Der grobe Sandkies, ein leichter Boden, filtert das Wasser und reguliert wie ein Schwamm. Das erhöht die Aromen für dieses gesunde Gemüse voller ätherischer Öle", schwelgt der Gemüsebauer, dessen Lieblingsgericht das panierte Sellerieschnitzel ist. Frei nach dem Bauernsprichwort: „Es ist für Mama gut, wenn es der Papa tut", gehöre sie in jede Suppe.
Manch unscheinbarer Wurzelknolle sagt man aphrodisierende Wirkung nach. Das geballte A-E-Vitaminspektrum, Folsäure, Kalium oder Eisen kommen zur Stimmungserhellung noch dazu. Bei „Winterfreuden" wie Nieren-, Blasen- und Harnwegsbeschwerden sind Sellerie und Topinambur von großem ernährungsphysiologischem Wert. Erstere mildert Husten und entwässert. Zweitere gilt durch seinen, im Körper aus Fruktose aufgespalteten Inulin-Anteil als Darmfreund und Geheimtipp für Diabetiker. Ein Tee aus Pastinaken und Petersilienwurzel wirkt gegen Magenschmerzen, Schlaflosigkeit und Fieber. Andere Inhaltsstoffe sollen blutreinigend und schmerzlindernd sein.
Medizinische Wirkung
Mal von der an die Tausend Jahre alten Hausapotheken-Wirkung abgesehen, stehen diese Gemüsedamen für eine Eleganz an Vielfalt. Fürs zu Hause Kochen ist der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Die Knollenfamilie eignet sich neben den sanft gegarten und gedämpften Varianten, die ihren Eigengeschmack zart hervorheben, auch als Gratin oder Grillgemüse. Mit Olivenöl, Meersalz, mediterranen Kräutern, Fenchelsamen, zerdrücktem Knoblauch oder orientalischen Gewürzen wie Curry, Chili und Kurkuma transformiert es sich zum Geschmacksträger.
Als Beilage passt es zu Fisch und Fleisch. Gar köstlich auch zu asiatisch Mariniertem mit Honig, Sesamöl, Sojasauce und Limetten. Es bettet sich gern auf Vollkornreis oder Hirse oder landet in einer Quiche. Die Konsistenzen sind variabel: In feinem Kartoffelpüree geben Pastinaken, Petersilienwurzeln oder Sellerie den Umami-Pfiff. Ein Klecks Sahnemeerrettich vermittelt elegante Schärfe. Frittierte Knoblauchscheibchen oder Petersilie sorgen für den Crisp. Lecker sind auch kleine Topinambur-Puffer, die zusammen mit Möhren geraspelt werden. Mit einer Masse aus Eiern und Lauch werden sie zu kleinen Vegi-Talern goldbraun gebacken. Die Rote-Bete-Suppe ist wie alle anderen „Wu-Kno-Gerichte" eine Liebeserklärung an diese facettenreiche und so einfache Traditionsküche.