Wolfgang Martin war Musikchef bei Jugendradio DT64 und nach der Wende bei Antenne Brandenburg. In seinem Buch berichtet der Berliner über Radio-Begegnungen mit Ost- und West-Stars.
Er hatte Abba, Herbert Grönemeyer und fast alle Ost-Stars vor dem Mikrofon. Er interviewte Tim Robinson, Rio Reiser und Die Ärzte. Bereits im Alter von 22 Jahren stieg er beim Ostradio ein und hob später Formate wie „Beatkiste" und „Notenbude" mit aus der Taufe: Wolfgang Martin war vor der Wende Musikchef des Jugendradios DT64 und danach Redaktionsleiter von Antenne Brandenburg. Kaum ein Zweiter kennt die deutsche und internationale Musikszene so gut wie der gebürtige Luckenwalder. Zu seinen privaten Freunden zählen Veronika Fischer und Frank Schöbel ebenso wie Georgi Gogow von City oder Ex-Puhdy Dieter Birr.
In seinem kürzlich erschienenen Buch „Wie die Westmusik ins Ostradio kam" (Bild und Heimat) schildert der Journalist unter anderem, wie er private West-LPs im DDR-Staatsfunk spielte oder wie Interviews mit ausgeflippten Promis völlig aus dem Ruder liefen. Wolfgang Martin selbst sind Allüren völlig fremd. Der Köpenicker scheint die Ruhe in Person zu sein. Dabei hatte er in 42 Berufsjahren auch mit wilden Rockern und schrillen Künstlern wie Nina Hagen zu tun. „Nina mochte ich beispielsweise sehr und begleitete sie auch mal für eine Reportage auf einer Tournee. Da lernte ich sie etwas besser kennen, nicht nur die Ulknudel", blickt Wolfgang Martin zurück.
Umgekehrt waren scheinbar viele Musiker von seiner Interviewführung angetan. Lob kam unter anderem von Peter Maffay und Rio Reiser. Herbert Grönemeyer bedankte sich einst für „viel Zeit zum Antworten auf intelligente Fragen". Für Wolfgang Martin war das immer selbstverständlich: „Das war oberstes Gebot unserer Arbeit: niemals oberflächliche Interviews zu führen."
Manchmal gingen Gespräche aber auch gründlich daneben, beispielsweise der Austausch mit Status Quo aus England in einem Leipziger Hotel. „Die Jungs waren so betrunken und hatten wohl auch ein bisschen Gras geschnupft, dass sie unsere Fragen einfach nicht beantworten wollten oder konnten", erinnert sich der heute 68-Jährige. Zweimal vergaß er bei Interviews, die Starttaste seines Aufnahmerekorders zu drücken: einmal beim schwedischen Popsänger Harpo („Moviestar") und bei Rio Reiser. Er durfte die Gespräche jeweils ein zweites Mal führen.
„Ich habe an das System geglaubt"
Auf die Probe stellten ihn mal Die Ärzte: „Das war in einer Kreuzberger Kneipe, wo mehrere Radiokollegen im Halbstundentakt von Farin, Bela und Rod empfangen wurden." Die Sänger legten es offenbar darauf an, einige Reporter am langen Arm verhungern zu lassen und Fragen nicht richtig zu beantworten. Ein paar Journalisten kehrten schweißgebadet aus dem Interviewraum zurück. Wolfgang Martin rückte indes keinen Deut von seinen Fragen ab, was der Band wohl Respekt abnötigte. „Sie beantworteten alles brav, aber trotzdem auch witzig und intelligent."
Am Rande erwähnt Wolfgang Martin, dass er im Staatsfunk auch seine privaten West-Schallplatten spielte. Die LPs stammten unter anderem vom Schwarzmarkt. Fragten Chefs und Parteisekretär nie, woher die begehrte Ware kam? „Doch, das passierte andauernd und war auch nicht immer so angenehm. Ich konnte ja nicht jedes Mal erzählen, dass meine Oma sie von ihren Westbesuchen mitbrachte. Manchmal gab es auch eine Information von der DDR-Zollverwaltung, wenn die mal wieder ein Päckchen abgefangen hatten. Als dann auch andere Kolleginnen und Kollegen ihre privaten Westplatten mit in die Redaktion brachten, war es aber kaum noch zu kontrollieren", erinnert sich der Musikjournalist.
Er selbst habe nie den Drang verspürt, ins Herkunftsland vieler seiner Idole auszureisen: „Ich bin in der DDR aufgewachsen, in behüteten Verhältnissen, wie man so sagt. Ich hatte ab 1977 eine eigene Familie, Freude an meiner Arbeit und viele Jahre auch an das bessere System geglaubt." Der Aderlass prominenter Ost-Künstler Richtung Westen traf ihn umso mehr, wie Martin sagt. „Vor allem machte es mich traurig und nachdenklich, denn mit den meisten Künstlern war ich ja befreundet beziehungsweise kannte sie von Radiosendungen." Ausreisende in die Bundesrepublik und nach Westberlin wie Veronika Fischer und Holger Biege seien auch große Verluste für die Programmgestaltung im Ost-Rundfunk gewesen.
Zu Hause ist Wolfgang Martin seit vielen Jahren in Köpenick am Rande Berlins. Wenn er mit seiner Frau Richtung Ku’damm oder zu einem der beiden Söhne an den Kollwitzplatz aufbricht, heißt es immer: „Heute fahren wir in die Stadt." Brandenburg liege da viel näher. Der Mark fühlt sich der frühere Radiomacher sehr verbunden: „Mein halbes Leben habe ich hier verbracht. Geboren in Luckenwalde, aufgewachsen in Babelsberg und Strausberg, lebte ich von 1964 bis 1968 im Internat in Cöthen bei Falkenberg. Von 1992 bis zu meiner Pensionierung 2017 fuhr ich fast täglich von Köpenick zum Arbeitsort beim ORB beziehungsweise RBB nach Potsdam-Babelsberg", nennt Wolfgang Martin einige Stationen seiner Vita.
Heute lässt er es viel ruhiger angehen, wie zu erfahren ist. Sein Frühstück finde meist im heimischen Köpenick statt. Zum Morgenmahl würden Müsli, zwei Toastscheiben, unter anderem mit Ei und Lachs sowie mindestens zwei Pötte schwarzer Kaffee gehören. „Musik kommt nicht aus dem Radio, sondern von mir ausgewählten CDs. Je nach Lust und Laune Bob Dylan, Beatles, Stones, auch mal Miles Davis oder Frank Sinatra." Radio höre er nach wie vor, auch wenn sich die Rundfunklandschaft sehr verändert habe. Zu seinen Favoriten zählen Antenne Brandenburg, Radio Eins und Kulturradio, wenn die Enkel im Auto sitzen aber auch Radio Teddy.
Wolfgang Martins reich bebilderte Lektüre „Wie die Westmusik ins Ostradio kam" zeigt anschaulich, wie Rundfunk im Osten funktionierte. Am Buchende listet der Autor zudem alle Top Fünf der DDR-Jahres-Hitparade von 1975 bis 1990 auf. In dieser Rubrik finden Leser auch ausgewählte Hörerpost.