Cancel Culture: Ist Abschaffen die Lösung? Und wenn ja, wofür?
Man lernt ja nie aus. Naiv wie ich bin, dachte ich bis vor Kurzem, Cancel Culture sei bloß ein Schlagwort derer, die ständig verlautbaren, dieses oder jenes ja wohl noch sagen zu dürfen. Sie wissen schon, die sich in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt fühlen, weil eine Süßigkeit mittlerweile offiziell Schaumkuss genannt wird.
Es geht aber nicht bloß darum, dass jemand meint, etwas solle abgeschafft werden. Es gibt in den sozialen Medien tatsächlich direkte Aufrufe, diesen oder jenen Musiker, diese oder jene Künstlerin zu „canceln", also abzuschaffen, fertigzumachen. Schluss, Karriere vorbei! Tschüss, schön’ Tag noch! Möge die Macht des Shitstorms mit uns sein!
Ich finde es, gelinde gesagt, irritierend, wenn eine Gruppe von Menschen sich zusammenrottet und andere Menschen „abschaffen" möchte. Ich hätte diese Denk- und Vorgehensweise eher dem rechten Spektrum zugeordnet. Nach dem beliebten Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn": Wenn Personen ausgegrenzt, Diskussionen unterbunden, Meinungen verboten und ungeliebte Kunst abgeschafft wird, hat das einen, sagen wir mal, „historischen" Beigeschmack in Deutschland.
Und nein: Ich setze den Nationalsozialismus hier nicht etwa gleich mit der Tatsache, dass sich Menschen im Internet verbünden und meinen, unter dem Hashtag #canceleminem den Rapper Eminem „abschaffen" zu müssen, weil der – vor allem früher – homophobe und frauenfeindliche Texte schrieb. Auffallend ähnlich ist aber die Vorgehensweise.
Ein neuer Typus Internetnutzer übernimmt das Web. Dieser sucht gezielt nach Dingen – Einzelfälle meist –, reißt sie aus dem Kontext, um sich dann an ihnen abzuarbeiten. Die Journalistin Teresa Bücker schrieb etwa auf Twitter: „Als ich vor einiger Zeit meiner Tochter die Geschichte vom Frosch und der Tigerente vorlesen wollte, fiel mir auf, dass der Frosch ein Schweigen der Ente als ‚Ja‘ zum Küssen auslegt. Küssen ohne Einverständnis. Das ist nicht kindgerecht. Kinder müssen Nein-Sagen lernen." Zum Mitschreiben: Eine Geschichte wird nicht vorgelesen, weil die Tigerente, die wohlgemerkt aus Holz ist und in keiner einzigen Janosch-Geschichte jemals auch nur ein Wort gesprochen hat, ja, äh, was eigentlich? Sexuell genötigt wurde?
Ein erhöhtes Bewusstsein für gesellschaftliche Probleme oder „Wokeness", wie es neuerdings heißt, verselbstständigt sich hier offenbar. Müssen Kinder Nein-Sagen lernen? Ein deutliches Ja! Lernen Kinder, dass sexuelle Nötigung okay ist, nur weil ein unbelebtes Spielzeug in einer Kindergeschichte nicht sein Okay zu einem Kuss gibt? Ich habe im Übrigen schon häufig Kinder gesehen, die ihre Spielsachen küssen. Ohne deren Zustimmung! Muss man die nun auch canceln?
Diese manische Suche nach Dingen, von denen man sich verletzt fühlen kann, ist ein typisches Social-Media-Phänomen und dient meist der Schärfung des eigenen Profils. Anprangern als Lebensaufgabe. Mein Vorschlag: Wir verbieten in autoritärer Manier einfach alles, was uns nicht passt, reißen Dinge aus dem Kontext und – am wichtigsten –
suchen erst gar nicht den Diskurs, weil die anderen eh viel zu blöd sind, unsere „woke" Denkweise zu verstehen.
Ich mache den Anfang. Netflix? Abschaffen! Dort gibt es schließlich eine Dokumentation über Wälder, und in einem Wald habe ich mir mal den Knöchel verstaucht – aua, aua, buhu! Väter? Canceln, weil Patriarchat und so. Die Raupe Nimmersatt? Weg damit! Das Buch verharmlost Essstörungen und außerdem ist Nimmersatt ein Anagramm von Amtstermin, und mehr brauche ich wohl nicht zu sagen. Das Album „High Voltage" von AC/DC? Entsorgen, denn spielt man die Platte rückwärts ab, hört man nicht eine einzige satanische Botschaft, was im Zuge der Gleichstellung von Religionen unverantwortlich ist. Diese Kolumne? Weg damit, weil … Sie finden schon einen Grund. Da bin ich ganz sicher.