Von einer Insel im Indischen Ozean stammt eines der edelsten Gewürze der Welt, die Frucht einer besonderen Orchidee. La Réunion, Frankreichs Außenposten in Übersee, ist ein Schmelztiegel der Kulturen, ein buntes Gemisch aus Tropen und Savoir-vivre und die Heimat der Vanille.
Drei Jahre müssen sie warten, bis sie endlich ausschwärmen können. Drei Jahre: So lange braucht es, bis jene Pflanze, um die sich hier alles dreht, bereit ist für die erste Bestäubung. Im Halbdunkel des Waldes klettern wunderliche Pflanzen an den Stämmen der Bäume empor, rankende Lianen mit Luftwurzeln und dicken fleischigen Blättern. Im dunklen Grün erkennt man ab und an ein paar gelbe Tupfer. Es ist Zeit, dass die Bienen kommen, um die Blüten zu befruchten. Aus denen wird später das „schwarze Gold" entstehen – echte Bourbon-Vanille.
Doch auf La Réunion, einem französischen Außenposten in den Tropen, haben die Bienen gelegentlich nur zwei Beine statt wie üblich sechs. Sie tragen auch Jeans, langärmelige Hemden und hippe Baseballkappen. Und statt zu summen, unterhalten sie sich in kreolischem Singsang.
Damien und Doan sind zwei Mittzwanziger, die mit ihrer Arbeit der Natur auf die Sprünge helfen. So angeregt die beiden Jungs auch parlieren, jetzt ist ihre ruhige Hand gefragt. Sie machen auf der kleinen Insel in der großen Weite des Indischen Ozeans nämlich das, was in Mittelamerika normalerweise Insekten erledigen. Doch weil es auf La Réunion die passenden Bienen nicht gibt, müssen die Menschen selbst Hand anlegen.
Bereits die Azteken liebten es, ihren Kakao mit der Frucht der Orchideenart Vanilla planifolia zu verfeinern. „Vor 200 Jahren wurde die Vanillepflanze aus Mexiko nach La Réunion eingeführt", erzählt Bertrand Come, Besitzer des größten unabhängigen Vanilleproduzenten von La Réunion. „Doch die Besitzer der Plantagen verzweifelten, weil die Pflanzen zwar gediehen, aber nie Früchte trugen." Edmond Albius, ein zum Gärtner ausgebildeter Sklave, fand die Lösung.
Ein Wegenetz von mehr als 1.000 Kilometern
Mit einem Kakteenstachel entfernte er in einer Blüte das Jungfernhäutchen, das die Selbstbefruchtung verhindert, und drückte Pollen und Narbe aufeinander. Nach diesem Prinzip arbeiten Damien und Doan, die beiden menschlichen Bienen, bis heute. Gut Tausend Orchideen bestäubt jeder behutsam mit seinen Fingern, Tausend allein an diesem Vormittag. Aus den gelblichen Blüten der Orchideen wachsen dann im Laufe der nächsten neun Monate schmale Schoten heran. Bis daraus das Gewürz Vanille wird, ist es aber noch ein weiter Weg.
Nebelwälder und Vulkankrater im Zentrum, schwarze Lavaklippen und feine weiße Sandstrände an der 200 Kilometer langen Küste: La Réunion bietet auf kleiner Fläche große Vielfalt. Die aus einem Mix aus Völkern und Religionen hervorgegangene kreolische Kultur gibt es in einer so bunten Melange kein zweites Mal im Indischen Ozean. In den Städten stehen tamilische Tempel neben katholischen Kirchen, man besucht sich gegenseitig bei Festen und Feiern. Und die Insulaner haben sich auf einen Schutzpatron geeinigt: Den Heiligen Sankt Expédit verehren in roten Schreinen Hindus und Christen gleichermaßen. Zur Exotik gesellt sich die Sicherheit: Als Teil der Europäischen Union gilt der Euro, auf den perfekt ausgebauten Straßen herrscht Rechtsverkehr.
Um das wilde Herz von La Réunion zu erleben, muss man aber den Rucksack packen und die Wanderstiefel schnüren. Früh am Morgen geht es los, weil die Wolken hier faule Langschläfer sind und am Vormittag meist keine Nebelschleier die Aussicht beeinträchtigen. Selbst aber muss man wach sein: Es geht steil nach unten in eine Schlucht, dann wieder steil nach oben. Mal knirschen Lavabrocken unter den Schuhen, mal geht es zur Querung von Bächen hüpfend über Flusskiesel.
1.270 Meter im Aufstieg, 850 Meter im Abstieg hat die Tour vom Dorf Cilaos zur Siedlung Marla im Talkessel von Mafate. Dorthin führt keine Straße: Nur ein gut beschildertes Wegenetz von mehr als 1.000 Kilometern Länge erstreckt sich in den Bergen, die mit ihren tief eingeschnittenen Tälern, Vulkankratern und Wasserfällen zum Unesco-Weltnaturerbe zählen.
Ins Gepäck gehören also neben Badeschlappen für den Strand auch gute Schuhe fürs Landesinnere. „Die Landschaft ist ein Traum. Doch man marschiert nicht über Spazierwege, sondern in alpinem Terrain über Stock und Stein", meint Stefan Brandner aus Fellbach bei Stuttgart. Seine Reiseagentur hat sich als Spezialist für La Réunion einen Namen gemacht, dort eine Dependance eröffnet und organisiert nun für diverse deutsche Veranstalter die Programme auf der Insel. Brandners Bestseller sind geführte Trekkingreisen. Eine gute Woche lang wandert man hier durch die abgeschiedenen Talkessel der Insel und übernachtet in Bergsteigerhütten. Bei der Komfort-Variante sind es dagegen charmante Pensionen, von denen aus man zu Tagestouren startet.
Im wahrsten Sinne des Wortes ein Höhepunkt ist die Besteigung des Piton des Neiges, dem mit 3.070 Metern höchsten Berg im Indischen Ozean. Einfacher zu erreichen ist der Vulkan Piton de la Fournaise. Der hitzige Feuerkopf kocht ab und an über und spuckt in regelmäßigen Abständen Lava. Gefährliche Tiere gibt es aber nicht in den Zauberwäldern zu seinen Füßen, nur Urwaldriesen voller Bartflechten, Orchideen und gigantischer Baumfarne. Wenn etwas im Unterholz raschelt, ist es keine Giftschlange, sondern meist nur ein putziger Borstenigel.
Kreolische Villen mit prächtigen Gärten
Wo sonst soll die Königin der Gewürze wachsen, wenn nicht in diesem – wie einst der Dichter Charles Baudelaire schwärmte – „duftenden Land, das die Sonne verwöhnt"? In kleinen Destillen gewinnen hier viele Bauern Essenzen aus Geranien, Vetiver und Ylang-Ylang. Doch im wilden Osten des französischen Übersee-Departements, zwischen den Orten Sainte-Suzanne und Saint-Philippe, dreht sich alles um die Vanille. Hier ranken sich die Pflanzen die Bäume hinauf oder werden auf Plantagen unter Schattennetzen angebaut.
Das sorgt für eine reichte Ernte. Das ganze Jahr über duftet der Arbeitsplatz von Bertrand Come deswegen nach Schlaraffenland. Doch der Eigentümer von La Vanilleraie nimmt ihn kaum noch wahr, diesen würzig-süßlichen Hauch, der sich ausbreitet und im Laufe der Zeit unaufhaltsam alle Kleider parfümiert. Schlechte Aromen erkennt der Herr des Duftes aber sofort – die minderwertigen Schoten werden umgehend aussortiert. Come kennt alle Stationen des aufwendigen Prozesses, um die Früchte der Vanille-Orchidee in ein aromatisches Gewürz zu verwandeln, und erklärt sie bei Führungen auch Besuchern.
„Die grünen Schoten werden zunächst mit Wasser abgebrüht und zum Gären gebracht", erzählt er. „Wenn sie dann trocknen, entwickeln sie ihren Duft. Doch erst die lange Lagerung unter Luftabschluss bewirkt die Entfaltung aller Aromen". Insgesamt 140 Duftstoffe sollen es sein: Nur einer davon ist Vanillin, das auch künstlich hergestellt werden kann. Doch das Aroma von Vanillin wirkt im Vergleich zum natürlichen Original nur flach und eintönig. Dafür ist es viel billiger als das „schwarze Gold". Auf bis zu 700 Euro pro Kilo steigt der Preis für echte Gewürzvanille, wenn die Ernte karg ausfällt.
Die Vanille von der Insel, die einst nach den französischen Königen Île Bourbon hieß, hat La Réunion in der Welt bekannt gemacht. Auch vor Ort wird sie gern und reichlich verwendet. Wer ins Örtchen Hell-Bourg fährt, muss eine Straße nehmen, die sich Serpentine um Serpentine in Richtung Berge hinaufschraubt.
Kreolische Villen mit prächtigen Gärten lassen Kolonialnostalgiker von der Zeit träumen, als hier noch die Oberschicht dem heißen Klima der Küste entfloh. Heute indes genießen Touristen dort das ganze Jahr über die Kombination von Haute Cuisine und den Gewürzen des Indischen Ozeans.
Wie wäre es mit „Canard à la vanille"? Und nach der Ente ein „rhum arrangé"? Der wird als Digestif nach dem Essen getrunken, und jeder Gastgeber hat sein Hausrezept. Wer in die auf dem Fensterbrett reifenden Flaschen blickt, wird darin fast immer eine Vanilleschote finden. Nach dem Kosten geht es einem dann wie mit La Réunion selbst: Einmal probiert, für immer verführt.