Deutschland ist gesamtwirtschaftlich relativ glimpflich durch die Corona-Pandemie gekommen. Aus wissenschaftlicher Sicht aber braucht es vier große Veränderungen, um widerstandsfähiger gegen künftige Probleme zu werden – sagt der Ökonom Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung.
Seit über einem Jahr hat uns die Corona-Krise voll im Griff. Fast 80.000 Tote bis Mitte April, Unternehmen im Würgegriff der nicht enden wollenden Lockdowns und die starke Einschränkung der Grundrechte machen Deutschland mehr und mehr zu schaffen. Dass es bislang noch relativ glimpflich verlaufen sei, liege am Sozialsystem mit hoher Solidarität, am funktionierenden Gesundheitssystem, an der Vielzahl resilienter Unternehmen sowie an der hohen Wertschätzung für die Wissenschaft, nennt Ökonom Marcel Fratzscher einige wichtige Gründe. Der renommierte Professor für Makroökonomie und Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) war im März virtueller Gastredner in Saarbrücken.
Enorme Schäden, aber auch Chance auf neues Bewusstsein
Die Corona-Pandemie habe ein unvorstellbares Ausmaß angenommen und richte enorme Schäden an, aber sie biete auch eine Chance, ein neues Bewusstsein bei den Menschen zu erzeugen, wie die künftigen Herausforderungen gemeistert werden könnten, zeigte sich Marcel Fratzscher optimistisch. „Die Pandemie wird uns in vier großen Dimensionen verändern." Als ein wichtiges Erfolgsrezept gilt seit Beginn der Krise der Schutz des Einzelnen oder anders ausgedrückt der Schutz der Schwächsten in der Gesellschaft. Diese Solidarität bleibe nach der Krise ein wichtiger Baustein. Des Weiteren werde es entscheidend darauf ankommen, eine gesunde und neue Balance zwischen Staat und Markt zu finden: „Gerade Krisen zeigen, wie wichtig das Funktionieren staatlicher Institutionen ist." Der Markt allein sei kein probates Mittel zur Lösung aller wirtschaftlichen Probleme. Wichtig ist zudem die Erkenntnis, dass die Herausforderungen der Zukunft – wie Klima- und Umweltschutz, Digitalisierung, technologischer Fortschritt oder Migration – nur global gelöst werden könnten. „Wir brauchen einen grundlegenden Wandel zu mehr Multilateralismus verbunden mit einer klaren Absage an den Nationalismus inklusive Protektionismus und Populismus." Als vierten Faktor führt Fratzscher die Bedeutung der Wissenschaft an. Sie habe in der Pandemie eine lautere Stimme bekommen, an der sich viele Menschen orientieren. Nie zuvor wurde so entscheidend auf den Rat von Virologen gehört.
Fratzscher spricht bei diesen vier großen Veränderungen von der „neuen Aufklärung": Es sind die drei Elemente Autonomie, sprich der Staat muss die Menschen in die Lage versetzen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, Universalismus, sprich Rechte und Pflichten gelten für alle Menschen, und Humanismus, sprich Menschlichkeit im Umgang miteinander.
„Wenn wir diese Faktoren nicht ernst nehmen, besteht die Gefahr einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft", mahnt Fratzscher vor den Folgen und sieht dringenden Handlungsbedarf.
Die Reform des Sozialstaats ist ihm dabei ein wichtiges Anliegen. „Wir müssen weg von rein passiven Sozialsystemen, die einfach nur Geld auszahlen, sondern vielmehr den Weg der Chancengleichheit gehen, zum Beispiel in der Schule oder im Beruf." Der Staat müsse alle Menschen mitnehmen und ihnen eine realistische Chance auf Selbstbestimmung bieten. Auch der Leistungsgedanke gehöre auf den Prüfstand. „Was heißt eigentlich Leistung in unserer Gesellschaft? Wie honorieren wir künftig die Leistungen systemrelevanter Berufe wie Pflegekräfte?", fragt Fratzscher. Nur Applaus wie im Frühjahr letzten Jahres reiche nicht aus.
Wichtig bleiben Investitionen in die Infrastruktur des Staates, angefangen bei der digitalen Transformation über Bildung bis hin zur Verkehrsinfrastruktur. Allerdings steht der Staat vor einem Dilemma: „Der Spagat, keine Steuererhöhungen, die Einhaltung der Schuldenbremse sowie mehr Investitionen, wird nicht gelingen." Der Staat werde Prioritäten setzen müssen und wahrscheinlich die Investitionen schleifen lassen, befürchtet Fratzscher. Das Spardiktat der letzten 25 Jahre habe obendrein dazu geführt, dass beispielsweise Kommunen, die einen Großteil der Investitionen tätigen müssten, gar keine Personalressourcen mehr hätten, da viele Stellen dem Sparen zum Opfer gefallen seien. Zudem seien 30 Prozent der Kommunen bereits heute komplett überschuldet.
Klare Absage an eine reine Sparpolitik der Bundesregierung
Einer reinen Sparpolitik erteilt Fratzscher eine klare Absage. Sie führe letztendlich dazu, dass wichtige Zukunftsinvestitionen in Deutschland ausblieben. Eine künftige Regierung gleich welcher Couleur müsse sich daran messen lassen, wie sie Zukunftsinvestitionen anstoße, das Sozialsystem reformiere und die staatlichen Institutionen modernisiere, sprich Digitalisierung der Verwaltung.
Beim derzeitigen Zinsniveau liegt die reine Zinslast in Deutschland bei 0,2 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung. Da sei es sicherlich besser, in eine intakte Umwelt, in qualifizierte Arbeitsplätze, in Bildung und zukunftsfähige Infrastruktur zu investieren als nur Schulden abzubauen.
Sorge bereitet Fratzscher die Kakofonie der Politiker im Superwahljahr. Die vielen nicht gehaltenen Versprechen in der Corona-Krise mit Impfungen und Testungen haben zu einem massiven Vertrauensverlust bei den Menschen geführt. Dieses katastrophale Verhalten der Politik, das sich ständige Überbieten bei Ministerpräsidentenkonferenzen, werde leider in diesem Jahr anhalten, so Fratzscher.
In puncto Europa fordert der Ökonom die EU-Mitgliedstaaten dazu auf, mit einer Stimme zu sprechen. Europa müsse sich entscheiden, ob es bei den beiden Giganten USA und China Gehör finden wolle. Jedes europäische Land für sich genommen sei viel zu klein. An einer engen Partnerschaft mit den USA führe aus seiner Sicht kein Weg vorbei. Nur in der Wertegemeinschaft mit den USA könne Europa Standards und Spielregeln definieren, die letztlich im Systemwettbewerb selbst von China anerkannt werden müssten. „Die Struktur der Wirtschaft verändert sich permanent, aber wir haben die Stärke, diese Veränderungen positiv für uns zu nutzen", gibt sich Fratzscher dennoch optimistisch. Aber dazu gehören der Wille und der Mut zu Veränderungen.