Die verkorkste „Osterruhe" zieht Konsequenzen nach sich. Eine davon: mehr Kompetenzen für den Bund. Für die einen eine Entmachtung der Länder, für die anderen längst überfällig.
Der Protest war überschaubar und von kurzer Dauer. Im Chor der Gegner sind nicht wenige, deren Protest ein wenig krokodilstränenhaft daherkommt. Mehr Zuständigkeit für den Bund kann auch als Entlastung von eigener Verantwortung gesehen werden.
Abgezeichnet hatte es sich schon lange. Genau genommen spätestens seit Oktober letzten Jahres, als die Debatten um mehr Durchgriffsrechte des Bundes den Wunsch nach einheitlicheren Regelungen in der Pandemiebekämpfung begleiteten. Jetzt zieht der Bund mehr Kompetenzen an sich und der deutsche Sprachschatz ist dank Corona einmal mehr um ein Wort reicher: Bundesnotbremse.
Eine Notbremse, deren Bedeutung man unterschiedlich lesen kann. In der Sache beschreibt sie ein bundeseinheitlicheres Vorgehen bei Erreichen einer 100er-Inzidenz und regelt verbindlich Maßnahmen. Politisch soll sie dem Gezerre um die Bund-Länder-Runden, den Konferenzen von Ministerpräsidenten und Kanzlerin, Einhalt gebieten.
Weil die Regelung über das Infektionsschutzgesetz geht, ist prompt die Debatte über Entmachtung der Länder und die Zukunft des Föderalismus entbrannt.
Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) wurde deutlich: „Diesen Einheitswahn teile ich überhaupt ich nicht". Aber noch kurz vor der Kabinettssitzung, die die Änderungen auf den Weg gebracht hat, ergänzte er in seiner bekannt knorrigen Art: „Wenn der Bund das macht, dann gilt das, und wir machen mit. Und dann sind die Deutschen sehr froh, dass alles genau gleich geschieht." Der sarkastische Unterton ist selbst in schriftlicher Form zu hören.
Bundesregelung statt eigener Entscheidung
Aber genau das trifft die Lage, die sich aus gleich mehreren Dilemmata gleichzeitig entwickelt hat, und die bislang keiner zu entwirren vermochte. Dass daran das föderale System Deutschlands schuld sei, trifft es zum einen durchaus, ist aber auch wohlfeil in einer Zeit, in der der Föderalismus gern für alles herhalten muss, was nicht wirklich gut funktioniert – wobei gleichzeitig die Belege, dass alles zentralstaatlich bestens liefe, nicht schlüssig erbracht werden.
In der Pandemiebekämpfung könne es unterschiedliche Wege geben, betonte Kretschmann, schließlich seien auch die Inzidenzraten unterschiedlich. Damit wiederholt er ein Argument, das die Debatte um mehr einheitliche Regelung seit Beginn begleitet. Bislang konnte auch noch niemand schlüssig erklären, warum überall, gleich ob die Inzidenz bei 60 oder 230 liegt, die gleichen Regeln gelten sollten (was im Übrigen auch nicht der Fall ist).
Bleibt das Argument, die Länderchefs hätten sich nicht an die gemeinsamen Verabredungen gehalten. Stimmt so nicht, sagt beispielsweise der CDU-Fraktionschef im Saarland, Alexander Funk. Nur „jedes Land hat das anders umgesetzt". Genau das aber führte und führt zum Eindruck eines Flickenteppichs und unkoordinierten Haufens. Tatsächlich ist nicht von der Hand zu weisen, dass dieses „anders umgesetzt" schon mal damit einherging, sich auch über ziemlich klare Verabredungen hinwegzusetzen.
Gelegentlich erinnert das alles daran, wie es auf anderer Ebene im Verhältnis zur EU zu beobachten ist: Da werden gemeinsame Beschlüsse (in der Regel einstimmig) getroffen, und wenn man wieder zurück zu Hause ist, schimpft man über „die da in Brüssel" und was die Böses beschlossen haben. Nebenbei bemerkt hat Deutschland etliche Verfahren gegen sich laufen wegen Nicht- oder unzureichender Umsetzung von EU-Richtlinien. Der Bund hat dagegen derzeit keine Handhabe, um Länder zu mehr Umsetzungsdisziplin zu bringen.
Einheitlicher muss nicht effektiver sein
Beim Infektionsschutz liegen wesentliche Kompetenzen bei den Ländern – der Gesetzgeber wird sich seinerzeit etwas dabei überlegt haben. Gleichzeitig sind aber offenbar die unterschiedlichen Kompetenzen zwischen Bund und Ländern dabei nicht ganz so trennscharf geklärt, was in der politischen Diskussion immer wieder erlaubt, mit dem Finger auf den jeweils anderen zu zeigen, der die Hausaufgaben nicht ordentlich erledigt habe.
Wenn zudem klar ist, dass die Pandemie nicht mit nur der einen Maßnahme in den Griff zu bekommen ist, unterschiedliche Entwicklungen (Stichwort Mutationen) zu ständigen Korrekturen nötigen und zugleich Gerichte vielfach Verordnungen oder Teile von Verordnungen kippen, entsteht ein Bild kopfloser Konfusion und eine Sehnsucht nach klaren, einheitlichen Regeln und Kriterien. Das wird noch dadurch verstärkt, dass rund um jedes Treffen jeder Landeschef und jede Ministerpräsidentin darauf aus ist, eigene Positionierungen einer breiten Öffentlichkeit kundzutun.
Dass der Bund mit mehr Kompetenz vieles besser in den Griff bekäme, lässt sich mit gutem Grund bezweifeln. Von der Corona-App bis zur Impfstoffbeschaffung sieht es nicht danach aus, als würden die Dinge zügig und effektiv vonstattengehen.
Trotzdem war nach dem Vor-Ostern-Desaster klar, dass die bisherign Abstimmungsprozeduren an ihr Ende gekommen sind. Ist es damit auch der Föderalismus? Formal sicher nicht, denn Änderungen im Infektionsschutzgesetz sind situationsbedingt begrenzt. Möglicherweise wirkt der Ansehensverlust in die Fähigkeit des föderalen Systems, mit derartigen Krisen umzugehen, tiefer. Dabei bringt allen berechtigten Verärgerungen zum Trotz ein Blick zu den Nachbarn nicht den überzeugenden Beweis, dass andere Systeme auf der Strecke bis jetzt so viel bessere Ergebnisse in der Pandemiebekämpfung erzielt hätten, selbst wenn es in einzelnen Phasen den Eindruck gehabt haben mag.
Politisch könnte manchem Landeschef, der sonst mit Zähnen und Klauen eigene Kompetenzen verteidigt und sie allenfalls in teuren Deals bereit ist, teilweise abzugeben, aber gar nicht unrecht sein, wenn zukünftig mehr „aus Berlin kommt". Da lässt sich Verantwortung für schwierige und gegebenenfalls unpopuläre Entscheidungen verweisen. Und für Bürger gäbe es sozusagen zumindest die Orientierung darüber, wo die Schuldigen sitzen. Das aber ist nicht die vorrangige Orientierung, die Bürger seit Langem erwarteten. Die würde in einem klaren Rahmen bestehen, der allerdings auch eine eindeutige Verbindlichkeit haben muss, mit Spielräumen innerhalb des Rahmens. Nur die Spielräume nutzen und den Rahmen im Zweifel nicht ganz so strikt zu nehmen hat letztlich zu der Situation geführt, vor der die Politik jetzt steht. Insofern haben die Beteiligten durch ihr Handeln, das sich zunehmend verselbstständigt hat, zu der Situation beigetragen. Am Schluss scheint sogar ein Stück gewollter „Selbstentmachtung" mitgespielt zu haben. Zumindest kann man auf diese Idee kommen angesichts der Äußerungen aus den Ländern schon vor den Beschlüssen. Berlins Regierungschef und derzeitiger Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz, Michael Müller (SPD), war der Meinung, bundeseinheitliche gesetzliche Regelungenhätten vor allem den Vorteil, dass man damit als Landeschef „den eigenen Parlamenten gegenüber … ganz anders argumentieren" könne.