Schon der Begriff sollte Tatkraft und Klarheit signalisieren. Eine Bundesnotbremse soll per Infektionsschutzgesetz regeln, wozu die ritualisierten Bund-Länder-Spitzentreffen offenbar nicht in der Lage waren.
Klare Regeln, was ab wann zu gelten hat, das wollte nicht nur eine sichtlich genervte Kanzlerin, es entspricht auch dem weitverbreiteten Willen einer ebenfalls zunehmend genervten Bevölkerung. Als Ausweg aus dem wiederkehrenden Ritual der Bund-Länder-Spitzentreffen sollte zumindest für die Maßnahmen, die ab einer bestimmten Inzidenz für alle bindend sind, ein klares Regelwerk her.
Geschäftsschließungen, Unterricht, Ausgangsbeschränkungen, möglichst viel sollte eindeutig geregelt werden. So sah es die Vorlage vor. Was dann passierte, bestätigte eindrucksvoll, was der ehemalige parlamentarische Haudegen Peter Struck (SPD) unnachahmlich zusammengefasst hat: „Kein Gesetz verlässt den Bundestag so, wie es eingebracht wurde". Die geplanten nächtlichen Ausgangsbeschränkungen wurden auf Druck der SPD aufgeweicht, und eine neue Zahl stand im Raum pandemischer Grenzziehungen: 165. Ab diesem Wert sollen Schulen in Distanzunterricht gehen. Als Union und SPD zum Wochenbeginn diese Einigung verkündeten, sah alles wieder aus wie nach Tarifverhandlungen, und erinnerte damit unwillkürlich an die vorösterlichen Zeiten, als Kanzleramt und Ministerpräsidenten im 14-Tage-Rhythmus versuchten, gemeinsame Linien bei der Pandemiebekämpfung zu finden; mit Vorab-Interviews, Zwischen-Tweets und anschließenden „Interpretationen" der Beschlüsse in den Ländern.
Ausgangsbeschränkung erst mal entschärft
Weil diese Runden für alle erkennbar mit dem Desaster um die Osterruhetage ihre Grenzen erreicht hatten, soll es nun mit der Änderung des Infektionsschutzgesetzes klare Regeln geben, was von manchen schon als „Entmachtung der Länder" gesehen worden war. Die hielten gleich den Bundesrat als ihr Veto-Instrument hoch, und statt der Ministerpräsidentenriege verhandelten nun die Fraktionen über eine Stunde mehr oder weniger nächtlicher Ruhe auf den Straßen und Plätzen, um Spaziergänge bis Mitternacht und schließlich darüber, ob sich nicht zwischen 100 und 200 noch eine weitere Inzidenzmarke ausmachen lässt.
Wenn das alles beschlossen ist (Bundestags- und Bundesratssitzungen waren erst nach Redaktionsschluss anberaumt), bleibt die Frage, wie viel das zur Eindämmung der Pandemie hilft und wie viel mehr klare Orientierung herrscht im Vergleich zu den letzten Monaten. Es gibt dann zwar den bundeseinheitlichen Rahmen, die Zentralregelungsbefürworter haben sich erst einmal durchgesetzt, aber die Frage, inwiefern das eine angemessene Reaktion auf die Unterschiedlichkeiten in der Republik darstellt, ist nicht wirklich beantwortet.
Am gleichen Tag, als der Kompromiss gefunden wurde, starteten Eckernförde und die Schlei-Region als Tourismus-Modellregion. Hotels, Ferienwohnungen und Restaurants können wieder– unter Auflagen – Gäste empfangen. Andere bereits ausgewählte Tourismus-Modellregionen in Schleswig-Holstein haben den Start bis Anfang Mai herausgezögert, weil derzeit die Zahlen dort steigen. Insgesamt ist das Land im Norden das einzige, das zu diesem Zeitpunkt deutlich unter der 100er-Inzidenz liegt.
Im Saarland mit zuletzt Inzidenzzahlen um die 130 hielt die Landesregierung noch am Konzept der Modellregion (mit Stufe „gelb" bei 100) fest, verschärfte aber die Testauflagen deutlich. Eine Bundesnotbremse würde die „Modellregion" bei diesen Zahlen stoppen.
In Tübingen sorgt sich Oberbürgermeister Palmer um sein „Tübinger Modell". Seine Stadt liegt trotz zuletzt gestiegener Zahlen zwar unter der 100er-Grenze, der umliegende Landkreis aber deutlich drüber. Die Bundesnotbremse bezieht sich auf die Kreisebene.
Die Reaktionen auf den neuen Kompromiss klangen zunächst erwartungsgemäß bekannt. SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach warnt, dass mit den Aufweichungen insbesondere der vorgesehenen Ausgangsbeschränkung die Maßnahmen „50 Prozent ihrer Wirkung verlieren" würden. Andere Beteiligte erwarten dagegen, dass es damit gelinge, die „dritte Welle wirksam zu brechen".
Effizienz einzelner Maßnahmen offen
Gesundheitsminister Jens Spahn hatte schon vor den Kompromissen die Länder dazu aufgerufen, angesichts der Entwicklungen die Bundesnotbremse schon anzuwenden, bevor sie endgültig die parlamentarischen Hürden genommen hat. In diesem Fall hätten Länder, die teilweise dazu ihre Bereitschaft signalisiert hatten, aber andere Bremsen verordnet, als sie dann zwei Tage später ausgehandelt wurden. Im Kern bleibt auch mit diesem Schritt zu den unter der „Bundesnotbremse" zusammengefassten Regelungen die Frage, an was man sich denn nun halten soll, um die leidige Pandemie soweit beherrschbar zu machen, dass eine einigermaßen verlässliche Form von Normalität für einen zumindest einigermaßen überschaubaren Zeitraum Bestand haben kann.
Umfragen hatten vor der Notbremse gezeigt, dass eine deutliche Mehrheit die bis dahin bekannten Maßnahmen begrüßten und ein beträchtlicher weiterer Teil sagte, dass das alles noch nicht weit genug geht. Nähme man das allein als Maßstab, sollte die Notbremse, egal auf welcher Ebene, eigentlich kein Problem sein. Allerdings drängt sich bei sich solchen Umfragen, auch wenn sie ein relativ konstantes Bild abgegeben haben, der Verdacht auf, es könne sich ähnlich wie beispielsweise mit dem Klimaschutz verhalten. Im Grunde ist eine eindeutige Mehrheit dafür, aber wenn es vor Ort und im eigenen Lebensbereich konkret wird, sieht das schon mal ganz schnell anders aus.
Ganz vergleichbar gilt das wohl auch für die Forderung an die Politik, doch endlich die Warnungen und Empfehlungen von Experten und aus der Wissenschaft ernst zu nehmen und umzusetzen. Was oft mit dem Hinweis verbunden wird, wie oft schließlich diese Experten Recht behalten hätten. Was dann auch gleich mit den Beispielen gekontert werden kann, wo es eben nicht der Fall war. Ersteres lässt sich in der Regel einigermaßen leicht zeigen, lässt aber ebenso die Frage offen, ob mangelnde Vorschriften. mangelnde Bereitschaft zur Umsetzung oder mangelnde Kontrolle hauptursächlich sind, dass sich Erfolge nicht im erhofften Maß eingestellt haben. Und wenn Worst-Case-Szenarien nicht eintreffen, mag das als Präventionsparadox bekannte Phänomen eine Erklärung sein.
Zudem ist sich „die Wissenschaft" eben keineswegs unisono einig, liegt es doch gerade im Wesen der Wissenschaft, einmal gewonnene Erkenntnisse kritisch zu hinterfragen, um sie so entweder zu bestätigen oder eben zu neuen Fragen zu kommen, bei denen erst nach Antworten geforscht werden muss. Und davon gibt es noch zahlreiche in dieser Pandemie. Denn was welche Maßnahme zur Eindämmung bringt, ist noch in weiten Bereichen ungeklärt. Unstrittig klar ist das allenfalls für die bekannten „AHA plus L"-Regeln. Ansonsten ist bislang wenig konsequent erforscht.
Selbst ein Blick zu den Nachbarn mit ihren unterschiedlichen Wegen und Pandemiestrategien ist nur begrenzt aussagekräftig. Frankreich – mit ziemlich weitreichenden und kontrollierten Ausgangssperren – hat deutlich stärker mit der Entwicklung zu kämpfen. Spanien war zeitweise mit Maßnahmen wie konsequenter Maskenpflicht und Fiebermessen in öffentlichen Verkehrsmitteln erfolgreich, bis eine weitere Welle zuschlug. Ob das, wie vermutet, mit dem Dreikönigsfest, das dort Familienfest ist wie hierzulande Weihnachten, zusammenhing, war zu vermuten. Portugal, phasenweise Hotspot selbst im globalen Vergleich, kam mit einem knallharten Lockdown (Ausgangssperre, Homeofficepflicht, geschlossenen Schulen) von einer Inzidenz nahe 900 auf aktuell um die 30. Wie welche Maßnahmen wirken oder warum vergleichbare Maßnahmen nicht zwingend zu den gleichen Ergebnissen führen, darüber gibt es noch zu wenig verlässliche und gesicherte Aussagen.