Die Schriftstellerin Helga Schubert gewann den Ingeborg-Bachmann-Preis 2020 mit der Geschichte „Vom Aufstehen". Kürzlich erschien das gleichnamige Buch mit dem Untertitel „Ein Leben in Geschichten".
Helga Schubert wurde 1940 in Berlin-Kreuzberg geboren. Ihr Vater starb im Zweiten Weltkrieg, als sie ein Jahr alt war. Ihre Mutter flüchtete mit dem fünfjährigen Mädchen vor den Bombenangriffen nach Hinterpommern im heutigen Polen und später vor der Roten Armee nach Greifswald. Aufgewachsen ist Helga Schubert in Berlin, das zu Ostberlin geworden war. Sie studierte Psychologie an der Humboldt-Universität. Als 20-Jährige begann sie zu schreiben. Sie wurde 14 Jahre von der Staatssicherheit observiert. Einer Einladung zum Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1980 nach Klagenfurt konnte Sie nicht nachkommen, weil die Reise untersagt wurde. Die Nacht des 9. November 1989, den Fall der Mauer, erlebte Sie mit anderen auf der Straße.
Frau Schubert, von all dem schreiben Sie in „Vom Aufstehen" in 29 Erzählungen. „Vom Aufstehen" heißt jene Erzählung, mit der Sie den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen haben – die abschließende Geschichte des Buches. Verdanken wir es dieser Auszeichnung, dass ihr „Leben in Geschichten" bei DTV veröffentlicht wird?
Ja, denn unmittelbar nach dem Preis rief die wohl erfolgreichste Literaturagentin der Bundesrepublik, Karin Graf aus Berlin, an und bot mir an, mich zu vertreten, wenn ich ein neues Buch unveröffentlicht in der Schublade habe. Es heißt von ihr, dass sie ausschließlich Literaturpreisträger vertritt. So kam es, dass fast alle, die von mir etwas wollten, sich an sie wendeten. Sogar die Verlage wendeten sich an sie und nicht an mich. Der DTV machte das umfassendste Angebot und wollte auch frühestmöglich das Buch machen. Da entschied sie sich für diesen Verlag.
Der letzte Satz der Erzählung „Meine Heimat" lautet: „Denn meine Heimat ist die Prärie.", was darauf hindeutet, dass Sie Heimat nicht konkretisieren. Allerdings benennen Sie an anderer Stelle Berlin als „geliebte anonyme nervöse Heimatstadt". Seit fast 50 Jahren leben Sie in einem mecklenburgischen Dorf. Was verbinden Sie mit dem Begriff Heimat?
Bis vor zwölf Jahren, also bis 2008, war Berlin immer mein Hauptwohnsitz. Dieses Dorfhaus in Nordwestmecklenburg kauften wir 1975 und pendelten zwischen Berlin und diesem Ort, weil mein Mann an der Uni als Professor arbeitete und ich ja bis 1987 in der Klinik. So war das hier nur unser Urlaubsort und gelegentlicher Wochenendaufenthalt. Ich habe Heimat nur in Menschen, könnte mit einem geliebten Menschen in jedem freien Land leben. Der geliebte Mensch und die Freiheit, in dieser Rangreihe.
Schonungslos offenbaren Sie einen Mutter-Tochter-Konflikt. In diesen Erzählungen umschiffen Sie das „Ich" mit „die Tochter". Warum?
Innerhalb des Buchs habe ich nur in der Erzählung „Wahlverwandtschaft" das Autoren-Ich durch die dritte Person ersetzt. Und zwar bis kurz vor Schluss dieser Erzählung. Ich wollte eine größtmögliche Distanz zum inneren Schmerz und zur Demütigung der Tochter herstellen. In der Titelerzählung zum Schluss habe ich diese Distanz aufgehoben. Das ist eine künstlerische Entscheidung. Ich wollte dadurch den Akt des Verzeihens glaubhaft machen. Es ist eine menschliche Entwicklung im Buch zum Ende hin. Es sind keine in der Reihenfolge austauschbare Erzählungen.
In „Von allem genug" heißt es: „Mein Lebensthema ist die Geborgenheit". Finden Sie als evangelische Christin im Glauben etwas von jener Geborgenheit, die Sie als Kind missen mussten?
Ja, ich lebe in dieser umfassenden Geborgenheit des Glaubens. Das war aber schon als Kind so. Meine Mutter verhalf mir dazu, sozusagen von außen. Die Geborgenheit konnte sie mir nicht geben, aber doch, so sehe ich es nach ihrem Tod, eine Verlässlichkeit. Sie hat Geld für den Lebensunterhalt zur Verfügung gestellt, hat mich nicht zur Adoption freigegeben, was sie wegen eines Geliebten eigentlich wollte. Es hätte viel schlimmer kommen können. Und durch den Kontakt mit gläubigen Menschen, zum Beispiel der Mutter einer Schulfreundin, den sie mir ja nicht verbot, kam ich in eine wärmere Welt.
Nach Beendigung der Lektüre „Vom Aufstehen" musste ich an die Erkenntnis des katholischen Schriftstellers, Philosophen und Gegners der Nationalsozialisten Theodor Haecker denken: „Es gibt in der Tat Menschen, die wie ein Buch reden. Glücklicherweise gibt es zum Entgelt Bücher, die wie ein Mensch reden". Im März ist „Vom Aufstehen" erschienen, welche Reaktionen haben Sie erreicht?
Ich habe sehr viele Rückmeldungen erhalten. Ich möchte sie in fachliche, politische und persönliche Reaktionen unterteilen. Bei den fachlichen hat mich besonders die Aufnahme in verschiedene Hörfunk- und Fernsehformate gefreut: die Einstunden-Sendungen in mehreren Kulturkanälen, in der Schweiz in „52 beste Bücher", auf 3sat „Kulturzeit", im MDR „Artour", im NDR „Buch des Monats" und „Klassik à la carte", dass dort sogar das Hörbuch „Am Morgen vorgelesen" wird, dass der Deutschlandfunk zwei Halbstundenlesungen von mir sendet, rbb-Kultur wiederum eine Stunde zusammen mit dem Literarischen Kolloquium Berlin, der Südwestfunk in „Zeitgenossen", und beim WDR. Aus den Niederlanden und aus Schweden bekam der Verlag Übersetzungsangebote. Die politischen Rückmeldungen kamen von Menschen, die so wie ich in der DDR lebten und sich so wie ich freuten, dass sie friedlich zu Ende ging, die keine Nostalgie empfinden und diese offene Gesellschaft wollten, in der wir nun leben. Einige schrieben, dass sie vor Freude und Glück über diese Übereinstimmung mit meinem Buch weinten, dass sie es gleich zehnmal weiter verschenkt haben.
Die persönlichen Rückmeldungen in Briefen, E-Mails und Telefonanrufen kamen von Menschen, die mir von schwierigen persönlichen Umständen erzählten und ihrer Ermutigung, darüber hinwegzukommen. Einige haben mir einfach gedankt.
Der DTV-Verlag hat aufgrund der Medienresonanz frühere Bücher von mir für den August 2021 als Taschenbuch ins Verlagsprogramm vorgezogen: „Judasfrauen", über Denunziantinnen der Nazizeit vor den Nachkriegsgerichten und „Die Welt da drinnen" über Opfer der sogenannten Euthanasieaktion in NS-Deutschland, die beteiligten Ärzte und Pfleger. Für beide Bücher habe ich jahrelang Gerichtsakten gelesen.