Es ist so oder so die ungewöhnlichste Saison in nun fast 30 Jahren Champions League: Keine Zuschauer, Spiele auf neutralem Platz und vieles mehr sorgen für eine seltsame Stimmung. Aber auch sportlich ist in vieles ungewöhnlich. Und für Deutschland leider doch nicht erfolgreich wie erhofft.
Ewald Lienen war schon immer ein Querkopf. Und vor allem ein Fußball-Romantiker. Und so schüttelte der langjährige Bundesliga-trainer als Experte bei Sky nach dem Ende der Viertelfinals in der Champions League genervt den Kopf. Und dann sprudelte es aus ihm heraus. „Katar spielt gegen Abu Dhabi und ein russischer Oligarch gegen den spanischen Staat. Bayern raus, Dortmund raus, Liverpool raus, das gefällt mir alles gar nicht."
Nein, eine Saison für Fußball-Romantiker ist diese Spielzeit in der Königsklasse wahrlich nicht. Das liegt schon an den Umständen mit leeren Stadien und teilweise vogelwilden Spielort-Ansetzungen in Pandemie-Zeiten. Und selbst für die allerjüngsten Fußball-Fans bedeutete diese Saison einen Traditionsbruch. Denn die beiden größten Stars des Weltfußballs fehlten schon im Viertelfinale.
Anderthalb Jahrzehnte haben Lionel Messi und Cristiano Ronaldo den internationalen Fußball beherrscht. Zwischen 2008 und 2017 gab es keinen anderen Weltfußballer. Und das, obwohl nur Ronaldo mit dem EM-Triumph 2014 einen Titel mit der Nationalmannschaft holte. Ihren Zauber verbreiteten die beiden Giganten des Weltfußballs fast immer auf der großen Bühne Champions League. Die ewige Torschützenliste führt Ronaldo mit 134 Toren an – vor Messi mit 120. Bayern-Torjäger Robert Lewandowski als Dritter der ewigen Bestenliste traf bisher 73-mal. Und er war in der vergangenen Saison auch der erste seit 2008, der sich den alleinigen Titel des Torschützenkönigs holte, ohne Messi oder Ronaldo zu heißen. Fünfmal triumphierte Messi, sechsmal Ronaldo, einmal beide zusammen mit Neymar. Und auch den Titel holten sie in Serie. Fünfmal Ronaldo, viermal Messi.
Keine Saison für Romantiker des Fußballs
Die beiden Megastars waren also immer allgegenwärtig, wenn in der Königsklasse des europäischen Fußballs die Preise verteilt wurden. In dieser Saison fehlten sie erstmals seit der Saison 2004/05 beide schon nach der ersten K.-o.-Runde. Messis Barcelona scheiterte an Paris St. Germain, Ronaldos Juventus Turin am FC Porto. Zwischen 2006 und 2019 hatte sogar mindestens einer von ihnen immer im Halbfinale gestanden. Im Frühjahr 2005, als beide zuletzt gleichzeitig im Viertelfinale fehlten, waren sie 17 (Messi) und 20 (Ronaldo). Heute sind sie 33 und 36.
Es ist die große Chance für andere, auf der Bühne zu glänzen. Und zunächst sah es auch so aus, als würden vor allem die deutschen Trainer ihre Erfolgsgeschichte aus dem Vorjahr fortschreiben. Damals sorgten Hansi Flick (FC Bayern), Julian Nagelsmann (RB Leipzig) und Thomas Tuchel (Paris) für einen Rekord, als zum ersten Mal drei Trainer aus einem Land im Halbfinale standen. Und in dieser Saison sorgten die deutschen Fußballlehrer gleich für den nächsten Rekord. Denn vier Trainer aus einem Land hatten noch nie im Viertelfinale gestanden. Das Los hatte sogar die theoretische Möglichkeit eröffnet, dass erstmals vier im Halbfinale stehen, denn im Viertelfinale trafen keine Vereine mit deutschen Trainern aufeinander. Doch dann schied Jürgen Klopp mit Liverpool gegen Real Madrid aus, Flick mit dem FC Bayern in einer Neuauflage des Vorjahres-Finales gegen PSG und Edin Terzic mit Borussia Dortmund gegen Manchester City.
Die deutsche Fahne hält unter den Trainern damit wieder Tuchel hoch. Im Vorjahr hatte der frühere Dortmunder noch Paris ins Finale gegen die Bayern geführt, nun greift er mit dem FC Chelsea nach dem Henkelpott und könnte im Finale sogar auf PSG treffen, wo er bis Ende des Jahres noch tätig war. Erst einmal – um das Bild von Lienen zu erklären – trifft sein Verein, der seit 2003 dem russischen Oligarchen Roman Abramowitsch gehört, im Halbfinale auf Real Madrid. Während sich im anderen Duell die deutschen Bezwinger Paris und ManCity gegenüberstehen. PSG wird von der Investorengruppe Qatar Sports Investments geführt. Bei Manchester ist seit 2009 Scheich Mansour Bin Zayed Al Nahyan aus den Vereinigten Arabischen Emiraten Hauptanteilseigner.
Ein Trost für die deutschen Fans: Bei allen vier Halbfinalisten gehören deutsche Nationalspieler zum Kader. Bei Chelsea mit Kai Havertz, Timo Werner und Antonio Rüdiger sogar gleich drei. In Paris mit Thilo Kehrer und Julian Draxler immerhin zwei. Bei Real (Toni Kroos) und Manchester (Ilkay Gündogan) jeweils einer. Es steht also jetzt schon fest, trotz des Ausscheidens aller Bundesligisten um Titelverteidiger München sowie von Klopp und unabhängig vom Abschneiden Tuchels, dass sich beim Finale am 29. Mai in Istanbul in jedem Fall deutsche Stars gegenüberstehen werden. Immerhin.
Chelsea seit 2012 wieder im Halbfinale
Glaubt man dem Wettanbieter bwin, werden es Gündogan und Kroos sein. Sie gehen nämlich mit ihren Teams als Favoriten in die Halbfinals. Manchester ist mit einer Quote von 2,4:1 auch der Topfavorit auf den Titel vor PSG (4:1), Real (4,5) und Chelsea (5,5). Tuchels Team wäre also demnach der größte Außenseiter. Was dem Coach, der sein Team in weniger als drei Monaten von Rang neun auf Platz vier der Premier League führte, nichts ausmacht. „Wir sind sehr glücklich, dass wir dabei sind und wir nehmen alles mit, was wir können, um zu lernen und zu wachsen", sagte er: „Wenn du in der Geschichte schaust, siehst du, dass das eine große Errungenschaft ist für alle von uns, das ist keine Normalität, dass du da ankommst. Das Halbfinale in der Champions League ist eine große Sache." In der Tat: Chelsea, seit dem im Elfmeterschießen gewonnenen „Finale dahoam" 2012 in München Albtraum des FC Bayern, stand seit 2014 nicht mehr unter den besten vier Teams Europas.
Damals war übrigens Schluss gegen Atlético Madrid, das dann im Finale gegen Stadtrivale Real verlor. Die Königlichen sind nun der direkte Gegner der Blues. Real ist voll motiviert und mischt nach einer erschreckend schwachen Vorrunde auch in der Meisterschaft wieder voll um den Titel mit. Auf die Frage, was ihm an seiner Mannschaft am meisten gefalle, antwortete Trainer Zinedine Zidane dann auch: „Der Charakter. Qualität haben wir zur Genüge. Aber die Mannschaft will immer mehr. Je mehr Schwierigkeiten diese Mannschaft hat, desto mehr rückt sie zusammen und will sich da rausarbeiten."
Vor dem anderen Duell zeigt sich Manchesters Trainer Pep Guardiola hin- und hergerissen.
Guardiola trifft auf die Bayern-Besieger
Auf der einen Seite wäre er im Halbfinale „liebend gern nach München gefahren", sagte der Katalane, der die Bayern von 2013 bis 2016 trainierte. Allerdings ist er aus sportlichen Gründen wohl auch froh, dass nicht der Titelverteidiger aus der Bundesliga sein letzter Gegner auf dem Weg ins Finale ist. Paris habe seiner Meinung nach „die beste Mannschaft der Welt rausgeworfen", sagte Guardiola. Was aber wiederum gezeigt habe, „wie stark sie sind".
Kurios übrigens: Während Guardiola zuvor mit dem FC Bayern und dem FC Barcelona immer mindestens das Halbfinale erreicht hatte, brauchte er mit dem englischen Tabellenführer dafür fünf Anläufe. Nach einem Achtelfinal-Aus gegen Monaco folgten drei Viertelfinal-Pleiten gegen Liverpool, Tottenham und sogar Lyon. Nun steht nicht nur Guardiola erstmals mit City im Halbfinale, für die Citizens ist es das erste Mal überhaupt in der Vereinshistorie. Die seriöse BBC titelte am Tag nach dem Weiterkommen in Dortmund: „Bist Du bereit, Kylian Mbappé? City will jetzt noch mehr Geschichte schreiben."
Und um den Kreis zu den Traditionalisten zu schließen: Sie drücken nun wohl am ehesten noch Real die Daumen. Das Duell zwischen City und PSG nehmen viele von ihnen derweil mit Galgenhumor hin. Vom „Cashico" ist dort die Rede oder vom „Scheich-Duell". Ein Twitter-Nutzer schrieb: „Das wird ein hitziges Halbfinal zwischen Qatar Sports Investments und Abu Dhabi United Group for Development and Investment. Ich liebe Lokal-Derbys!" So kann man es auch sehen.