Viele deutsche Betriebe debattieren noch über das Homeoffice. Dabei hält damit bereits ein völlig anderes Konzept von Arbeit Einzug in den Büroalltag: das hybride Arbeiten, sagt Carmen Krettek, Diplom-Psychologin und Coach für Führungskräfte. Darauf sind nicht alle Unternehmen vorbereitet.
Frau Krettek, wie und wo arbeiten Sie gerade?
Ich arbeite wegen der Corona-Krise überwiegend von zu Hause. Der Ort meiner Arbeit entscheidet sich auch je nach Aufgabe. Außerdem kenne ich mein Energielevel, weiß also, wann ich am Tag am produktivsten bin und ich weiß, welche Art von Aufmerksamkeit die Aufgabe von mir fordert. In der Pandemie haben wir uns in meinem Beraternetzwerk zusammengeschlossen und uns eine steile Lernkurve verordnet. Denn die klassische Beratungsdienstleistung war im Gegensatz zu Trainingsdienstleistungen noch nicht digital. Derzeit arbeite ich fast 100 Prozent digital, auch in Beratung, Teamworkshops und im Führungskräftecoaching. Mit wechselnden Arbeitszeiten, job- und Homeschooling-bedingt, manchmal abends oder früh am Morgen, was mir als Mutter sehr entgegenkommt. Hätten wir diese Konstellation in einem Team, würden wir von hybrider Arbeit sprechen.
Sie beraten Unternehmen und Manager in Sachen hybrides Arbeiten. Was ist das genau?
Hybrides Arbeiten bedeutet, dass Teams nicht mehr am gleichen Ort sowie zeitunabhängig, asynchron zueinander arbeiten – es entsteht also zeitliche und räumliche Flexibilität. Homeoffice ist nur ein Aspekt des hybriden Arbeitens, nämlich der räumliche, der beispielsweise in der Bahn oder im Parkt stattfinden kann. Kommt die zeitliche Flexibilisierung hinzu, bedeutet dies, dass es ganz unterschiedliche Arbeitskonstellationen gibt: zeitgleiches Arbeiten im Büro, zeitgleiches Arbeiten, aber an unterschiedlichen Orten oder arbeiten im Büro und anderswo zu unterschiedlichen Zeiten. Das stellt die Arbeitsorganisation vor große Herausforderungen.
Nun gibt es viele Menschen neuerdings im Homeoffice, die sich selbst nicht gut einschätzen können, zum Beispiel länger arbeiten als sie müssten. Was raten Sie denen?
Zunächst müssen wir sehen, dass wir, wenn wir Arbeitsort und -zeit auflösen, ein Stück gewohnte Struktur wegnehmen. Die Selbstorganisationsfähigkeiten, die dann nötig sind, müssen mit den Mitarbeitern aufgebaut werden, wenn die Struktur außen fällt. Es wäre unfair, dem Mitarbeiter ein Kompetenzdefizit zuzuschreiben, sondern es gilt, diesen Kompetenzaufbau zu begleiten. Dazu gehört in allererster Linie das selbstorganisierte Arbeiten, was Zeitpläne, Pausen und Organisation des persönlichen Arbeitsplatzes betrifft. Ich habe Unternehmen erlebt, die ihre Mitarbeiter mit einem Laptop ins Homeoffice geschickt haben. Danach ging die Arbeit weiter wie zuvor. Das ist ein ungünstiger Start für hybrides Arbeiten, der nicht sein müsste und rückt die Potenziale dieser Arbeitsform oft in ein schlechtes Licht. Mitarbeiter, die sich überfordert fühlen, sollten mit ihrem Arbeitgeber offen sprechen. Und sie können sich auf der Seite der Baua (Bundesanstalt Arbeitsschutz und -medizin) oder der INQA (Initiative Neue Qualität der Arbeit) viele gute Tipps holen.
Vor welche Fragen stellt hybrides Arbeiten die Führungskräfte?
Führungskräfte müssen den Rahmen schaffen, in dem das Team gute Leistung bringen kann und die Führungskräfte sind dafür verantwortlich. Wir müssen aber vor der Arbeitsorganisation mit dem Team ansetzen. Wir fragen erst: Wie finden Sie das überhaupt, dass Sie nun ein hybrides Team führen? Ich arbeite zum Beispiel mit einer Führungskraft, deren Team über den Globus verteilt, in verschiedenen Zeitzonen wie USA, Singapur und Europa, arbeitet. Da gibt es keine Möglichkeit, gleichzeitig mit allen digital zu sprechen und keiner fordert dies. Führungskräfte, die zum ersten Mal damit konfrontiert sind, fragen wir nach der persönlichen Einstellung dazu. Ist die negativ, kann es immer wieder holprig werden, zum Beispiel wenn wir über die Frage diskutieren, welche Aufgaben für hybride Arbeit geeignet sind. Die Führungskraft verliert ja vermeintliche Kontrolle – vermeintlich, weil wir seit Langem wissen, dass bloße Anwesenheit kein Garant für Produktivität und gute Leistungen sind. Dennoch, wenn dieses Verlustgefühl besteht, steht es zunächst im Vordergrund. Dann braucht es neue Skills, die ein Stück Sicherheit zurückgeben. Das sind beispielsweise Kompetenzen zum ‚Führen mit Zielen‘, Kommunikationsskills zum Thema Erwartungsklärung und Feedback und Wissen, wie ich Interaktion im Team fördere. Auch Wissen aus der Arbeitsorganisation ist enorm hilfreich. Haben wir es beispielsweise mit Aufgaben zu tun, die Konzentration und Fokus brauchen oder einen kreativen Austausch? Dann weiß ich schon in etwa, in welchem Umfang ich einen gemeinsamen Raum oder gemeinsame Zeiten schaffen muss. Mit diesen Kompetenzen ausgestattet, kann ich in den Austausch mit dem Team gehen und experimentieren. Da merken wir, dass dann die Lust bei den Menschen entsteht, was Neues zu wagen. Aber das ist ein Entwicklungsweg. Und viele schrecken davor noch zurück: Es gibt etliche Untersuchungen, die zeigen, dass gut die Hälfte der Führungskräfte, nach der Krise nicht mehr Flexibilität anbieten wollen, als zuvor. Den Gedanken, vieles nach den positiven Erfahrungen zurückzudrehen, finde ich sehr schade.
Warum?
Aus meiner Sicht überwiegen die Vorteile hybrider Arbeit. Zum Beispiel mache ich mich als Unternehmen damit unabhängig vom lokalen Arbeitsmarkt. In ländlichen Regionen, wo Unternehmen bereits heute lange suchen müssen, bis sie jemanden überzeugen können, dort zu arbeiten, ist dies extrem relevant. Hybrides Arbeiten eröffnet einen bundesweiten oder gar weltweiten Pool an Mitarbeitern. Zum zweiten kann der Mitarbeiter mehr Flexibilität in seinem Berufsalltag bringen, Stichwort Work-Life-Integration. Drittens, und dies ist keine Frage von hybridem Arbeiten, steigt die Produktivität, wenn sich Mitarbeiter genau den Rahmen für die Aufgaben schaffen, der nötig ist – Ruhe beispielsweise für Aufgaben, die hohe Konzentration benötigen oder einen kreativen Rahmen für gemeinsame Schaffensprozesse. Entscheidend ist eine zentrale Frage: Was braucht die Aufgabe? Das bringt Produktivität, hybrid oder klassisch.
Welche Unternehmen wollen denn hybrid weiterarbeiten, welche nicht?
Man könnte drei Richtungen benennen: Unternehmen, die bereits vorher mit neuen Modellen experimentiert haben. Diese haben in der Pandemie noch mehr versucht und eine steile Lernkurve erlebt. Dies sind viele technische und IT-Unternehmen mit einer gegebenen Nähe zu digitalen Anwendungen. Eine weitere Kategorie sind die, die in der Pandemie festgestellt haben, was möglich ist und wie geräuschlos es oft funktionierte. Hier gibt es Tendenzen, dauerhaft flexible Angebote für die Belegschaft zu machen. Und es gibt Unternehmen, die nach der Krise die Flexibilisierungen wieder zurücknehmen möchten. Mit dem Alter der Führungskräfte hat das weniger zu tun, aber wir merken definitiv zweierlei: Dort, wo Führungskräfte sich bislang wenig mit Digitalisierung beschäftigt haben, ist die Zustimmung zur hybriden Arbeit geringer und dort, wo die Belegschaft eine Vertrauenskultur beschreibt, ist die Zustimmung zu Arbeitszeit- und Arbeitsortflexibilisierung höher.
Die zweite große Herausforderung für Führungskräfte sei den Zusammenhalt bewahren, haben Sie in einem Paper geschrieben. Wie funktioniert das bei so großen räumlichen und auch zeitlichen Distanzen?
Es gibt Teams, die derzeit virtuell gemeinsam zu Frühstück oder Mittag essen oder sich auf einen Kaffee treffen. Oder Teams, die ihre wöchentlichen Jour fixe gegen tägliche und mehrere 15-Minuten-Treffen eingetauscht haben. Dann trifft sich das Team, bespricht kurz was zu tun ist und wann Abstimmungen nötig sind. Das schafft Kontaktpunkte. Das zu initiieren ist Aufgabe der Führungskraft sowie mit den Mitarbeitern darüber im Gespräch zu bleiben. Denn der Teamzusammenhalt kann über Distanz abbauen, gerade bei digital unerfahrenen Teams. Gleichzeitig müssen Teams ihre eigenen Kontaktpunkte schaffen und nicht darauf warten, bis der Chef alle zusammenruft. Was wir aber auch merken, ist, dass die wenigsten eine 100 prozentige Flexibilität wünschen und viele sich auf ein ‚normal‘ mit den Kollegen im Büro freuen. Beides – hybrid eben!
Ist denn somit das klassische Modell „von 9 bis 5 im Büro" ein Auslaufmodell?
Definitiv. Im deutschen Arbeitsrecht ist das Recht des Arbeitnehmers ein hohes Gut. Rufe werden laut, dieses Recht zu flexibilisieren. Dafür bin ich nicht und gleichzeitig muss es Regelungen geben, die eine Flexibilität ermöglichen. Es gibt sicherlich starre Zeitregeln, die verändert werden könnten, und es herrscht oft noch die Idee vor, vor Ort sein zu müssen, um Leistung zu bringen. Dem ist nicht so. Beide, Mitarbeiter wie Führungskräfte, müssen Verantwortung dafür übernehmen und gemeinsam den Weg gehen.