Mit viel Brimborium wurde die Bundesnotbremse im Bundestag durchgepeitscht. Mit der Ausgangssperre soll die dritte Corona-Welle gebrochen werden. Soweit die Theorie.
In der Hauptstadt-Direktion der Bundespolizei ist der Leiter Lage übernervös. Diesmal ist es aber keine der Großdemonstrationen vor dem Kanzleramt, die die Männer und Frauen im Lagedienst in Atem hält, Der aktuelle Dienstplan bereitet den Beamten an der Schnellerstraße in Niederschöneweide Kopfzerbrechen. Bislang ist unklar, ob in der Nacht zum Sonntag die Autobahnauffahrten in Berlin von der Bundespolizei gesperrt werden sollen, schließlich ist das ihr Zuständigkeitsbereich. Doch entscheiden, ob die Stadtautobahn kommende Nacht dichtgemacht werden soll, muss der Berliner Innensenator. Der wartet wiederum an seinem Amtssitz an der Klosterstraße auf eine Entscheidung vom Regierenden Bürgermeister Michael Müller.
Es ist der Samstag, an dem um 22 Uhr erstmals seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland bundesweit ein generelles nächtliches Ausgangverbot gilt. Das betrifft nach der gerade verabschiedeten Bundesnotbremse Städte und Landkreise mit einer Inzidenz von über 100 – und damit bis auf wenige Ausnahme fast flächendeckend die gesamte Republik.
Leere Busse und leere U-Bahnen
Die Ministerpräsidenten haben der Notbremse mit Ausgangssperre zugestimmt oder zumindest, wenn auch widerstrebend, ohne weiteren Einspruch passieren lassen. In diesem Rahmen möchte nun die Bundespolizei von Berlins Landesregierung wissen, ob sie die Auffahrten zu den Bundesautobahnen der Hauptstadt sperren soll oder nicht. Ähnlich ergeht es auch anderen Leitern des Lagedienstes in den Direktionen der Bundespolizei in den anderen Bundesländern. Die „Bild"-Zeitung hatte die Totalsperre der Bundesautobahnen verkündet. Nicht nur im Fall von Berlin kommt die Anweisung schließlich nicht. Zumindest für die Bundespolizei-Hundertschaften an der Spree ist das Wochenende gerettet, da überraschend auch keine größeren Demonstrationen angemeldet sind. Aber auch für die Landespolizei soll es eine mehr als ruhige Einführung der vom Bund verfügten nächtlichen Ausgangssperre werden. Zusätzliche Kräfte zu Überwachung der Ausgangssperre sind nicht vorgesehen, die Alarmhundertschaften werden wie immer in den Polizeikasernen vorgehalten.
Das Beispiel Berlin zeigt exemplarisch, wie das zwischen Bund und Ländern läuft. Die Bundeskanzlerin drückt unter anderem eine einheitliche nächtliche Ausgangssperre durch, die Ministerpräsidenten nicken mit dem Kopf und machen dann doch, soweit es eben geht, wie sie lustig sind. Nicht nur der Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) hat die nächtliche Haus-Kasernierung seiner Bevölkerung abgelehnt. Auch die meisten seiner SPD-Kollegen und Kolleginnen ebenfalls.
Aber auch aus den CDU-regierten Ländern kommt Widerstand gegen die nächtliche Ausgangssperre. In der Bundeshauptstadt ist die Ablehnung der Maßnahme aber so offensichtlich, dass es auch der Ministerialbürokratie des Bundeskanzleramtes buchstäblich ins Gesicht gesprungen sein muss. Die Besetzung der Stabsstelle im Kanzleramt stellte in der ersten Nacht der bundesweiten Ausgangssperre von Samstag auf Sonntag verwundert fest, dass nachts um kurz vor ein Uhr immer noch die S-Bahn rollt. Gut sichtbar, etwa 300 Meter vom Kanzleramt entfernt, schlängelt sich die Haupttrasse des Berliner Schienen-Nah- und Fernverkehrs entlang. Bei der S-Bahn lautet offenbar auch während der Ausgangssperre, Berlin hat durchgehend geöffnet. Aber auch alle anderen öffentlichen Verkehrsmittel sind in dieser Nacht unterwegs. Die Nachtbusse fahren pünktlich, die U-Bahnen ebenfalls, wie immer am Wochenende. In Senatskreisen begründet man dies damit, dass die Mitarbeiter der Spät-, Nacht- und Frühschicht ja irgendwie nach Hause beziehungsweise zur Arbeit kommen müssten. Aber ob es da morgens um drei Uhr eines 20-Minuten-Taktes mit Vollzügen und Doppeldeckerbussen bedarf, kann durchaus angezweifelt werden. Die beinahe menschenleeren Transporteinheiten des ÖPNV in der Nacht werfen immer wieder aufs Neue Fragen nach dem Handling auf. Die Regierenden in Berlin haben auch an das leibliche Wohl der Nachtarbeiter gedacht. Während die Spätis um 22 Uhr schließen müssen, haben die Tankstellen ebenfalls die Nacht durch geöffnet, dürfen aber keine alkoholischen Getränke verkaufen, woran sie sich auch selbstverständlich halten. Die Parkbesucher gegenüber einer Tankstelle in Berlin-Wilmersdorf wundern sich nur am nächsten Morgen, woher die ganzen leeren Sechser-Träger Bier herkommen, die am Abend vorher noch nicht neben der Mülltonne standen. Obendrein machten die Taxifahrer ein schönes Geschäft. Damit man nicht widerrechtlich nach 22 Uhr zu Fuß auf der Straße von der Polizei angetroffen wird, gönnten sich viele Nachtwandler lieber eine Taxe, was sich allerdings als überflüssig rausstellte. Das FORUM-Reporterteam durchstreifte die Berliner Innenstadt in der Nacht von Samstag auf Sonntag vom Alexanderplatz bis zum Kudamm. Von Polizei war nicht viel zu sehen. An den neuralgischen Punkten standen gut sichtbar ihre Fahrzeuge, aber das war es dann auch. Straßenkontrollen gab es in den vier Stunden nicht, unser Team wurde nicht einmal angesprochen, obwohl zu zweit unterwegs, was Normalbürgern zu dieser Zeit strengstens untersagt ist. Fünf junge Männer bringen es im Tiergarten dann auf den Punkt: „Wer ist denn so bescheuert und verabredet sich während der Ausgangssperre auch auf dem Alexanderplatz oder am Bahnhof Zoo?", platzt es aus einem 20-Jährigen raus. Er bestätigt auch das, wovor die Ministerpräsidenten schon während der Debatte um die Bundesnotbremse mit Ausgangssperre gewarnt hatten. „Wäre jetzt keine Ausgangssperre, würden wir ganz normal noch öffentlich mit Abstand im Park abhängen, vermutlich sogar mit Test", so der junge Mann. Nun verlagert sich das alles ab 22 Uhr in private Räumlichkeiten, wenn es gut läuft in irgendeinen Garten. „Da ist man dann zumindest noch draußen an der frischen Luft, aber viele haben keine Laube, und dann sitzen wir eben bei irgendeinem Kumpel in der Wohnung", so der 20-Jährige nachdenklich. Irgendwie muss man ja seine Kumpels treffen. Doch es geht nach 22 Uhr nicht nur darum. Auch das horizontale Gewerbe, das ja mittlerweile schon seit fast 14 Monaten verboten ist, kommt weiterhin, nun auch trotz Ausgangssperre, zu seinem Recht. Allerdings muss man schon ein Kenner der Szene sein, um die entsprechenden Angebote zu bekommen. Doch wo der Trieb, da ein Weg. Jetzt heißt es eben nicht mehr Straßen-, sondern eher Park-Strich.
Ruhige Nacht mit Ausgangssperre
Dass sich die Menschen nicht so einfach wegschließen lassen und die Länder überhaupt nicht so viele Sicherheitskräfte haben, um die nächtliche Ausgangssperre lückenlos zu überwachen, war allen Ministerpräsidenten klar. Sie warnten eindringlich, dass sich vor allem die Jüngeren dann heimlich hinter verschlossenen Türen treffen würden. Genauso scheint es, zumindest in der Bundeshauptstadt, gekommen zu sein. Am Sonntagmorgen nach fünf Uhr, dem Ende der Ausgangssperre, sind die Busse und Bahnen dann plötzlich recht voll. Laut Begründung des Berliner Senats ist jetzt offensichtlich überall Schichtende und die Menschen fahren, ermattet von der Arbeit, nach Hause. Ermattet ganz sicher, aber garantiert nicht scharenweise sonntags morgens um fünf von der Arbeit.