Ob mit Musikern, Schauspielern oder Influencern – viele Menschen führen parasoziale Beziehungen mit Personen, die sie noch nie getroffen haben. Wie sie entstehen und warum sie uns glücklich oder krank machen können.
Heulende oder kreischende Fans auf Konzerten, die ihre Idole anhimmeln, kennen wir alle. Sie hören nicht nur die Lieder der Sänger, sondern beginnen auch, sich für diese zu interessieren. Wer ist die Person hinter dem Song? Was macht sie in ihrer Freizeit, wohin fährt sie in Urlaub, ist sie in einer Beziehung? Manche Fans aktivieren Push-Nachrichten und lassen sich über Social-Media-Kanäle permanent über die neusten Aktivitäten ihrer Stars informieren. Dieses Interesse an der bekannten Person beschränkt sich natürlich nicht nur auf Musiker, sondern findet sich auch beispielsweise bei Schauspielern oder Influencern, die immer mehr in den Fokus der eigenen Aufmerksamkeit rücken. Echte Fanliebe, würden manche sagen. Forscher aber haben eine andere Erklärung für solches Verhalten: parasoziale Beziehung. Von sogenannten parasozialen Beziehungen spricht man, wenn eine Person eine emotionale Beziehung zu jemandem aufbaut, der in der Antwortmöglichkeit jedoch stark eingeschränkt ist. Das kann zum Beispiel ein Sänger sein, ein Schauspieler aber auch ein TV-Moderator oder Nachrichtensprecher.
Aber nicht nur Fans, die wir als emotional erleben, führen solche Beziehungen. Im Grunde ist jeder, der das Gefühl hat, jemanden zu kennen, der ihm eigentlich fremd ist, davon betroffen. Das kann uns sowohl mit realen als auch mit fiktiven Menschen wie Seriencharakteren oder Zeichentrickfiguren passieren. Auch deshalb reagieren manche Zuschauer so heftig auf das Absetzen einer Serie oder den Tod einer Filmfigur.
Wie genau also entstehen solche Beziehungen, und warum sind wir dafür empfänglich? Parasoziale Beziehungen sind keine Modererscheinungen der letzten Jahre, sondern gehen zurück auf einem Aufsatz der US-Psychologen Donald Horton und Richard Wohl von 1956. Schon damals stellten die Psychologen fest, dass audiovisuelle Medien durch wirklichkeitsgetreue Abbildung ihrer Akteure dem Rezipienten die Illusion eines Face-to-Face-Kontaktes, eines echten Gegenübers, vermitteln. Deshalb gehen sie davon aus, dass sich sowohl der Medienakteur als auch der Rezipient ähnlich wie in einer Face-to-Face-Situation verhalten. Die Medienperson vermittelt dem Zuschauer durch eine direkte Ansprache die Illusion, es würde sich um einen persönlichen Kontakt halten. Der Rezipient kann auf dieses Kommunikationsangebot eingehen, indem er sich von der rein beobachtenden Position löst und aktiv auf das Angebot der Medienperson reagiert. Genauso gut kann der Zuschauer das Kommunikationsangebot aber auch ablehnen und etwa den Fernseher abschalten. Die Medienperson wiederum passt ihr Verhalten an die Reaktion an, die sie oder er vom Zuschauer erwartet. Horton und Wohl gehen davon aus, dass die Rezipienten umso stärker am medialen Geschehen teilnehmen, umso stärker sie das angepasste Verhalten wahrnehmen. Diesen Austausch von gegenseitigen Erwartungen bezeichnen Horton und Wohl als parasoziale Interaktion, auf deren Grundlage sich längerfristige gefühlsmäßige Bindungen entwickeln können. Da parasoziale „Beziehungspartner" sehr verlässlich und konsistent agieren, birgt ihr Verhalten auch kaum unangenehme Überraschungen für den Rezipienten. Wie reale Beziehungen auch, unterliegen parasoziale Beziehungen einer Dynamik. Das heißt, sie haben einen Anfang, verstärken sich durch die wiederholte Rezeption und finden meist auch irgendwann wieder ein Ende.
Diese Beziehungen können gegen Einsamkeit helfen
Tatsächlich können solche Beziehungen positive Aspekte mit sich bringen. So sind Medienfiguren – anders als menschliche Freunde – unabhängig vom Umfeld frei wählbar, sehr zuverlässig, und man kann sich jederzeit mit ihnen beschäftigen. Insbesondere Teenagern, die gerade im Loslösungsprozess aus dem Elternhaus stecken, können solche Beziehungen neue Werte und Normen vermitteln. US-Forscher des Wellesley College konnten zeigen, dass Jugendliche auch besonders anfällig für intensive parasoziale Beziehungen sind. Auch wenn parasoziale Beziehungen wie Einbahnstraßen funktionieren, können sie für den Menschen nützlich sein. Insbesondere für Menschen mit einem geringeren Selbstwertgefühl können parasoziale Beziehungen Vorteile haben, wie etwa die Psychologen der University at Buffalo untersucht haben. In ihren Studien näherten sich Studenten mit geringerem Selbstwertgefühl ihrem idealen oder besten Selbst an, indem sie parasoziale Beziehungen zu bekannten Persönlichkeiten eingingen, die sie so wahrnahmen, wie sie selbst gern sein wollten.
Zudem können parasoziale Beziehungen gegen Einsamkeit helfen, den Alltag durch neue Gewohnheiten bereichern oder auch durch die Auseinandersetzung mit der bekannten Person und ihren Ansichten neue Perspektiven eröffnen. Hat der Star ähnliche Interessen oder Weltanschauungen wie man selbst, kann sich ein Gefühl von Bestätigung einstellen. Nicht zuletzt können unter Fans derselben bekannten Persönlichkeit dann auch reale Freundschaften entstehen.
Aber parasoziale Beziehungen können auch in ungewünschte Richtungen ausarten oder sogar krankmachen. Denn sich so mit jemandem verbunden zu fühlen, kann auch Kummer und Leid erzeugen. So gibt es etwa Fans, die nach dem Tod einer Serienfigur oder dem Auflösen der Lieblingsband in Trauer verfallen, sich einigeln oder nichts mehr machen wollen. Weil die Rezipienten aber in einer parasozialen Beziehung nicht in den Austausch treten können, können sie ihren Kummer schwieriger auflösen. Zudem kommen einige Fans nicht damit zurecht, dass die erhoffte Aufmerksamkeit von einer Person, die sie ja zu kennen glauben, ausbleibt. In schlimmen Fällen kann aus solchen Situationen heraus Stalking entstehen. Aber auch andere negative Auswirkungen sind möglich. Psychologen fanden etwa in einer Studie mit rund 300 britischen Probanden heraus, dass deren psychisches Wohlbefinden darunter litt, dass sie bekannte Persönlichkeiten intensiv verehrten. Bei ihnen traten in dem Zusammenhang unter anderem Symptome von Stress, Angst und Depressionen vermehrt auf.
Die Hoffnung, dass die bekannte Person auch von einem selbst weiß oder gar antwortet, wird durch moderne Formen der parasozialen Beziehungen noch verstärkt. Denn während sich Holton und Wohl 1956 noch mit audiovisuellen Medien wie dem Fernsehen und Akteuren wie Moderatoren und Nachrichtensprechern befassten, sind mittlerweile ganz neue Stars und Sternchen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt: Influencer. Die nämlich haben die Idee der parasozialen Beziehungen als Geschäftsmodell entdeckt. Mittels Youtube-Videos, persönlichen Fotos auf Instagram oder Live-Auftritten bei Facebook vermitteln sie ihren Followern das Gefühl, dass diese direkt an ihrem Leben teilhaben können. Mit Storys nehmen sie die Fans mit durch ihren Tag und via Kommentar- und Like-Funktion können diese reagieren. Letzteres beschäftigt auch die Forschung, weil es die Frage aufwirft, ob das noch eine „echte" parasoziale Interaktion ist, wo der Rezipient ja reagieren kann. Den Influencern zumindest dient diese Form der Interaktion. Sie schafft engere Bindungen zu Fans und die digitalen Stars nutzen das gezielt zum Aufbau ihrer Marke. Die Gleichung dahinter: Je stärker die Marke und je größer die Reichweite, desto lukrativer die Werbedeals, die sich damit abschließen lassen. Influencer-Marketing nennt sich das. Ein Markt, der wächst. Laut einer Befragung im Auftrag des Bundesverbandes Digitale Wirtschaft (BVDW) hat jeder sechste Online-Nutzer in Deutschland im Alter von 14 bis 29 Jahren schon einmal ein Produkt gekauft, das er zuvor bei einem Influencer gesehen hat. Der 2017 gegründete Bundesverband Influencer Marketing (BVIM) schätzt das Bruttowerbebudget auf einen hohen zweistelligen Millionenbetrag. Das ist zwar noch klein im Vergleich zum milliardenschweren Gesamtwerbemarkt, die Zuwachsraten allerdings entwickeln sich rasant. 2018 sprach der BVIM von 20 bis 30 Prozent.
Echte Freundschaften nicht vernachlässigen
Auf diese Weise lässt sich durchaus Geld verdienen. Eine Umfrage von Rakuten Advertising ergab, dass deutsche Unternehmen Influencern, die mehr als 500.000 Follower haben, bis zu 38.000 Euro pro Instagram-Post zahlen. Micro-Influencer, die eine Reichweite von unter 30.000 Followern haben, bekommen bis zu 32.000 Euro – allerdings pro Kampagne, die dann in der Regel mehrere Instagram-Posts und Storys umfasst. Wer drei bis sieben Millionen Follower hat, kann laut Schätzungen der „New York Times" umgerechnet knapp 58.000 Euro pro Post verlangen. Ein Beispiel aus Deutschland: Bianca „Bibi" Heinicke, heute Bianca Claßen, lädt seit 2012 auf ihrem Youtube-Kanal „BibisBeautyPalace" Videos hoch und hat sich im Laufe der Jahre eine Community von rund sechs Millionen Menschen erarbeitet. Bei Instagram kommt sie auf über sieben Millionen Follower. Das „Manager Magazin" schätzte 2017, dass die Influencerin pro Monat 110.000 Euro verdient, also 1,3 Millionen Euro im Jahr.
Alexander Rihl und Claudia Wegener von der Film Universität Babelsberg untersuchten die parasozialen Beziehungen von 1.174 jungen Konsumenten mit Youtubern. Sie fanden dabei nicht nur heraus, dass parasoziale Beziehungen häufig vorkamen, sondern dass die jungen Leute Youtuber als so etwas wie ihre virtuellen Freunde betrachteten. Vor allem bei Youtubern mit einer großen Fangemeinde, definiert als mehr als zwei Millionen Follower, waren parasoziale Bindungen stärker ausgeprägt. Dabei spielten auch die Feedback- beziehungsweise Interaktionsfunktionen eine Rolle: Je aktiver die Nutzer vorhandene Kommunikationsmöglichkeiten wie etwa Kommentare zu schreiben, nutzten, desto stärker waren die parasozialen Beziehungen ausgeprägt. Das machen sich sowohl Influencer als auch Unternehmen gern zunutze. Denn Produktempfehlungen von Freunden nehmen wir ganz anders auf und sind viel eher geneigt zu kaufen.
Das Problem: Längst nicht allen Nutzern ist klar, dass und wann es sich um Werbung handelt und dass kommerzielle statt freundschaftliche Ziele verfolgt werden. Wie im realen Leben auch gilt: Wenn man sich über längere Zeit nicht wohlfühlt oder runtergezogen wird, sollte man die parasoziale Beziehung überdenken.