Einige Bundesländer sind vorgeprescht, jetzt soll es eine bundeseinheitliche Regelung geben. Geimpfte und Genesene sollen mehr Freiheiten erhalten. Die Regelungen bleiben umstritten.
Die Erleichterung war dem 87-Jährigen anzusehen. Gerade hat er die zweite Impfung hinter sich und damit ein großes Stück neuer Lebensqualität zurück. Ohne die ständige Sorge, die ihn ein Jahr lang begleitet und zu großer Zurückhaltung in seinem Lebensalltag veranlasst hat. Die Grenzen der Freiheit erfährt er zehn Tage später, als er seit langem wieder seinen Friseur aufsuchen will. Geht nicht ohne aktuellen Test. Leider.
Zwei Tage zuvor hatten Bund und Länder eine Entscheidung über dem Umgang mit vollständig Geimpften – und Genesenen – vertagt. Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) stellte eine Regelung bis Ende Mai in Aussicht. Im Terminkalender war der 28. Mai eingetragen. Bis dahin sollte eine mögliche Regelung ihre letzte Hürde in der Sitzung des Bundesrates nehmen.
Dann aber war der Druck derart gewachsen, dass alles sehr viel schneller ging. Nicht zuletzt, weil reihenweise in Ländern eigene Regelungen auf den Weg gebracht worden waren. Wie üblich gehörte Bayern zu den ersten. Gerade mal 24 Stunden nach der Vertagung beschlossen die Bayern, vollständig Geimpfte mit negativ auf Corona Getesteten gleichzustellen. Andere Länder zogen nach, der Bund beriet im sogenannten „Corona-Kabinett", dem weitreichendere Schritte als Vorlage auf Tisch lagen. Neben der Gleichstellung von Geimpften und Genesenen mit negativ Corona-Getesteten geht es um Aufhebung von Kontakt- oder Ausgangsbeschränkungen. Der Druck erhöht sich zudem mit jeder Meldung eines neuen Tages-Impfrekords.
„Impfneid" macht die Runde
Das Wort vom „Impfneid" macht die Runde. Manche erheben es gleich zum „neuen deutschen Gefühl". Forsa hatte im Auftrag des „Stern" herausgefunden, dass etwa 40 Prozent der Ungeimpften die Geimpften beneiden. Die Umfrage war allerdings vor den ersten Beschlüssen zu Geimpften durchgeführt worden und im Ergebnis auch wenig überraschend. Wer hätte nicht gerne Schutz vor einer Pandemie, die das komplette Leben verändert hat? Jetzt geht es auch um Freiheitsrechte, die fälschlicherweise oft als Privilegien benannt werden.
Tatsächlich ist die Lage deutlich schwieriger und komplexer, als dass sie sich auf ein Schlagwort wie das vom „Impfneid" reduzieren ließe. Gerade mal ein Viertel der Bevölkerung hat eine Erstimpfung und nicht einmal zehn Prozent einen vollständigen Schutz durch eine Zweitimpfung (Stand Anfang Mai). Trotzdem war schon mit dem Anlaufen der Impfungen Ende letzten Jahres klar, dass sich Fragen mit fortschreitender Impfung stellen würden.
Medizinische Fragen wie etwa die nach Infektiösität von Geimpften. Können sich Geimpfte anstecken – und damit logischerweise andere infizieren? Das Robert Koch-Institut (RKI) schätzt die Ansteckungsgefahr durch Geimpfte als niedriger ein als die durch symptomlose und negativ getestete Personen. „Niedrig, aber nicht bei Null", hieß es Anfang April. Laufende Studien scheinen das weitgehend zu bestätigen. Eine Gleichbehandlung von vollständig Geimpften mit negativ Getesteten wäre somit logisch.
Juristisch ist vom Grundsatz her klar, dass keine Rechte ohne schwerwiegenden Grund vorenthalten werden dürfen. Die Frage ist die nach der Abwägung und der Grenzziehung. Die hat, wie Urteile und Beschlüsse zu Pandemiebekämpfungsmaßnahmen eindrucksvoll bestätigen, so gut wie immer etwas Willkürliches, berührt auch Gerechtigkeitsfragen. Allzu häufig haben Gerichte Verordnungen aus Gründen der Gleichbehandlung wieder kassiert – aber vielfach eben auch bestätigt, dass in Abwägung der Güter Einschränkungen, auch massiver Art, hinzunehmen seien. „Warum der und nicht ich?" war folglich immer auch eine der zentralen Fragen, wenn es um Öffnungen oder Schließungen, Einschränkungen oder Lockerungen ging.
Dass schrittweise Lockerungen um ein Vielfaches schwerer zu entscheiden, zu begründen und durchzuhalten sind, ist seit einem Jahr nach dem ersten Lockdown hinlänglich bekannt. Auch deshalb regt sich Unverständnis über das neuerliche Bild, das die Politik abgibt.
Während sich über Ladenöffnungen in Abhängigkeit von regionalen Entwicklungen noch diskutieren ließe, war das bei der Frage der Geimpften und Genesenen im Grunde nicht mehr vermittelbar. Das zeigt im Übrigen auch die europäische Debatte, wonach vollständige Geimpfte grundsätzlich wieder reisen sollen dürfen (was bis Redaktionsschluss noch nicht beschlossen war). Unterschiedliche Verfahrensweisen in den Bundesländern waren damit noch weniger darstellbar.
Zwiespältige Reaktionen
In der Bevölkerung selbst werden geplante Erleichterungen zwiespältig aufgenommen. Nach einer kurzfristigen Umfrage von Civey (im Auftrag von T-online) befürworten knapp 40 Porzent die Maßnahmen, gleichzeitig meinen knapp 30 Prozent, man sollte das erst machen, wenn alle ein Impfangebot erhalten haben.
Die Herausforderung der dahinterstehenden ethischen Fragen sind ebenfalls nicht völlig neu, dennoch nicht weniger spannend, wenn Politik Beschlüsse begründen muss, und das nicht nur unter naturwissenschaftlichen oder formal-juristischen Aspekten.
War die Priorität auf den Schutz besonders gefährdeter Gruppen vergleichsweise unstrittig, haben sich in den letzten Wochen schleichend die Priorisierungslisten aufgelöst. Das wäre auch kein allzu großes Problem, wenn ausreichend Impfstoff für alle Impfwilligen vorhanden wäre. Gleichzeitig wird darüber diskutiert, ob nicht gezieltes Impfen in Quartieren vorangetrieben werden müsste, die erkennbare Probleme und hohe Inzidenzraten haben. Dass ausreichend Impfstoff vorhanden wäre und zielgenaue Impfkampagnen überall vorangetrieben würden, davon kann noch keine Rede sein.
Seit der massiven Kritik der Weltgesundheitsorganisation WHO an schleppenden Impffortschritten in der EU („inakzeptabel langsam") Anfang April hat zwar das Tempo deutlich angezogen, aber noch reden wir bei der Aufhebung von Einschränkungen für vollständig Geimpfte in Deutschland eben nur von etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Bis zu einer Herdenimmunität, die allgemein bei einer Quote um die 70 Prozent angenommen wird, ist es noch ein ganzes Stück. Die ist aber nicht nur selbsterklärtes Ziel in der EU, sondern wäre vermutlich auch bis Herbst notwendig, wenn man auf die Erfahrungen der zurückliegenden Wintermonate mit der zweiten und schließlich der mutationsbedingten dritten Welle blickt.
Dass Bayern in dieser Phase der Diskussion die Absage des Münchner Oktoberfestes verkündete, zeigt, dass der Kampf um die Eindämmung der Pandemie nach jetzt gerade mal etwas mehr als vier Monaten Impfen zwar nicht mehr ganz am Anfang steht, aber doch den weitesten Weg vor sich hat.
Das Signal für Geimpfte kann dann durchaus als Ermutigung gesehen werden für den Fall einer möglichen Impfermüdung.