Rani Khedira ist ein typischer Transfer von Union Berlin: ein Spieler, der über Erfahrung und viel Mentalität verfügt, bislang aber etwas unter dem Radar flog. Khedira ist nicht nur wegen seines Nachnamens ein interessanter Neuzugang.
Sein großer Bruder war für Rani Khedira schon immer ein Vorbild, nicht erst seit dem WM-Triumph 2014. „Ich war immer überall dabei, wo Sami war", sagte Rani einmal. „Als ich zehn oder elf Jahre alt war, habe ich schon zu ihm aufgeschaut, ich habe ihn bewundert für seine professionelle Art, wie er versucht hat, immer alles rauszuhauen." Der Traum, einmal mit Sami in einem Team zu spielen, bleibt aber (vorerst) unerfüllt – auch wenn beide in der kommenden Saison in der gleichen Stadt als Profifußballer ihr Geld verdienen könnten. Rani Khedira entschied sich zu einem ablösefreien Wechsel vom FC Augsburg zu Union Berlin, Sami Khedira steht derzeit bei Hertha BSC unter Vertrag. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Rio-Weltmeister bei den Blau-Weißen seinen Vertrag noch mal verlängert und es kommende Saison zum Bruder-Duell im ohnehin brisanten Hauptstadt-Derby kommt – sofern Hertha der Klassenerhalt gelingt. Dass sein sieben Jahre älterer Bruder derzeit auch in Berlin lebt, war sicher ein Grund für Khediras Wechsel zu Union. Aber längst nicht der wichtigste. Der Defensiv-Allrounder ist von Unions rasantem Aufstieg zu einem Europacup-Anwärter begeistert. „Union hat in den letzten Jahren eine beachtliche Entwicklung hingelegt", schwärmte Khedira. Auch seien die Gespräche mit den Verantwortlichen „sehr überzeugend" gewesen. Übersetzt bedeutet das: Trainer Urs Fischer und Manager Oliver Ruhnert dürften Khedira mit einer klaren Aussicht auf einen Stammplatz nach Köpenick gelockt haben. Auf seiner Position ist Christian Gentner mit 35 Lenzen in die Jahre gekommen, Robert Andrich wird immer wieder mit anderen Clubs in Verbindung gebracht. Für Khedira spricht auch dessen Variabilität, der frühere Junioren-Nationalspieler kann auch in der Abwehr auflaufen. Dort ist vor allem die Position des zentralen Innenverteidigers in einer Dreier-Abwehr-Kette wie gemacht für die Fähigkeiten des umsichtigen und technisch versierten Spielers. „Rani Khedira ist ein sehr erfahrener Bundesligaprofi im besten Fußballalter. Wir sind von seinen fußballerischen Fähigkeiten ebenso überzeugt wie von seiner Persönlichkeit", sagte Ruhnert, der sich über ein Schnäppchen in Corona-Zeiten besonders freut: „Einen Spieler dieser Qualität ablösefrei verpflichten zu können, ist für uns von großem Wert." Bei Transfermarkt.de wird Khediras Marktwert auf sechs Millionen Euro taxiert.
„Ich war immer überall dabei, wo Sami war"
Khedira ist ein typischer Union-Transfer. Ein gestandener Profi, der etwas unter dem Radar läuft. So wie Robin Knoche und Andreas Luthe im vergangenen Sommer. Beide erwiesen sich als absolute Glücksgriffe, und auch Khedira hat das Potenzial, Union sofort weiterzuhelfen. Der 1,88 Meter große Profi passt mit seiner Kopfballstärke perfekt zu Unions Standardstärke, außerdem räumt er im defensiven Mittelfeld kompromisslos, aber meistens fair ab. Nach eroberten Bällen findet er in der Regel schnell den Nebenmann, seine Passquote ist überdurchschnittlich. Das Spielerprofil von Sami Khedira ist ganz ähnlich. „Die Vergleiche mit seinem Bruder nutzen niemandem", sagte jedoch der frühere Leipziger Trainer Ralf Rangnick einmal. „Rani ist eine eigenständige Persönlichkeit und ein Spieler mit eigenen Qualitäten." Doch eine Gemeinsamkeit ist unverkennbar: die Führungsqualität. Ein Team mit Khedira/Khedira auf der Doppel-Sechs „hätte eine großartige Mentalität", meinte Rani, „weil wir beide nicht verlieren können und bis zur letzten Sekunde alles für den Erfolg geben würden."
Diese Eigenschaft kommt nicht von ungefähr. Von klein auf mussten sich die Deutsch-Tunesier durchkämpfen, auch auf dem Bolzplatz vor der Haustür im schwäbischen Oeffingen. Dort kickten Sami, Rani und Denny, der dritte Khedira-Junge, von früh bis spät auf Schotter. „Die beiden haben mich schon als kleiner Junge immer zum Fußball mitgenommen", erinnerte sich Rani. „Beide waren in der Jugend Vorbilder für mich." Vor allem Sami eiferte er nach, auch wenn die Fußstapfen immer größer wurden. Genau wie sein Bruder durchlief der gebürtige Stuttgarter beim VfB alle Jugendmannschaften, dort debütierte er als 19-Jähriger auch in der Profimannschaft. Danach wechselte Khedira zu RB Leipzig, wo man große Pläne mit ihm hatte. „Rani ist genau das Abbild von Sami", hatte der damalige RB-Nachwuchsleiter Thomas Albeck geschwärmt. „Er ist ein Juwel, wird seinen Marktwert in den nächsten Jahren um ein Vielfaches steigern." Doch Khedira wurde nach dem Leipziger Bundesliga-Aufstieg der eine oder andere Star vor die Nase gesetzt. „Da hatte ich einfach sehr große Konkurrenz", erinnerte er sich. „Mit Naby Keita, der für 75 Millionen Euro zum FC Liverpool gewechselt ist, oder Diego Demme, der zum Nationalspieler gereift ist. Die waren in dem Augenblick einen Tick besser." Khediras Leistungen stagnierten, erst nach seinem Wechsel zum FC Augsburg entwickelte er sich zu einem gestandenen Bundesligaprofi, von dem Ex-Trainer Manuel Baum einmal sagte: „Meiner Meinung nach ist Rani unterbewertet." Sein Durchbruch in der Bundesliga habe „unter Manuel Baum angefangen", erinnerte sich Khedira. „Er hat mich sehr variabel eingesetzt. Mal hinten in der Dreierkette, mal auf der Sechs, mal auf der Zehn anlaufend." Bei den bayerischen Schwaben war Khedira über knapp vier Jahre nicht irgendein Füllspieler, der froh war, in den Kader gerutscht zu sein, sondern ein Fixpunkt und Leistungsträger. Die Zeit in Augsburg habe ihn „als Mensch und als Spieler reifen lassen". Den Schritt zu Union vollzieht Khedira daher auch selbstbewusst und voller Tatendrang. Zwar liebäugelte er auch mit einem Wechsel ins Ausland, weil das „spannend für die Persönlichkeitsentwicklung" gewesen wäre, aber diesen Plan hat er vorerst verworfen. Die Nachfrage war auch bedingt durch die Corona-Auswirkungen nicht so groß, das Angebot von Union aber passte. Auch, weil Khedira gesehen hat, dass sich unter Trainer Urs Fischer auch Spieler deutlich verbessern konnten, die sich schon im fortgeschrittenen Stadium ihrer Karriere befinden: Luthe, Knoche, Christopher Trimmel und viele andere. Und umgekehrt soll Khedira auch Union besser machen.
„Meiner Meinung nach ist Rani unterbewertet"
Khedira ist ein ehrgeiziger Typ, der sich keine Grenzen setzt. Auch das Thema Nationalmannschaft ist für ihn noch nicht abgehakt. „Es ist ein unheimlich großer Traum für mich, irgendwann einmal für die Nationalmannschaft aufzulaufen", sagte er einmal. Hier hat ihm sein Bruder vieles voraus: 77 Länderspiele mit dem WM-Sieg 2014 als Höhepunkt. Als Alternative könnte Khedira auch für Tunesien, das Land seines Vaters Lazar, auflaufen. Der tunesische Verband hat in der Vergangenheit immer mal wieder das Interesse bekundet. Doch Khedira fühlt sich seinem Geburtsland Deutschland emotional sehr verbunden, hier hat er von der U15 bis zur U21 alle Junioren-Auswahlteams durchlaufen. Auf eine Einladung von Joachim Löw wartete Khedira aber vergeblich. Nach der Europameisterschaft gibt es jedoch einen neuen Bundestrainer, und auch Khedira wagt einen Neuanfang.