Geradezu kometenhaft verlief der Aufstieg des Berliner Labels Ottolinger zu einem der weltweit angesagtesten Newcomer-Brands. Dessen avantgardistisch-destruktive Ästhetik begeistert nicht nur Kanye West, sondern hat auch Promis wie Dua Lipa oder Cardi B zu treuen Fans gemacht.
Statt wochenlang Zeit damit zu vergeuden über einen einprägsamen Namen für ihr 2015 gegründetes Label zu grübeln, hatten sich die Schweizerinnen Christa Bösch aus Stein in Toggenburg, Jahrgang 1986, und Cosima Gadient aus Basel, Jahrgang 1987, einfach beim Nachbarn ihres ersten Studios bedient. Über der Türklingel war dort „Ottolinger" zu lesen. Was zwar als Bezeichnung für ein neues Avantgarde-Fashion-Label ziemlich verstaubt klingen mochte, aber dadurch für die beiden Frauen einen geradezu provokativen Reiz beinhaltete. Bösch, die ursprünglich Jura studiert hatte, und Gadient hatten sich am Institut für Modedesign in Basel kennengelernt, dort 2014 zusammen den Abschluss gemacht und sich zur Lancierung eines gemeinsamen Labels entschlossen. Der Grund: Sie hatten entdeckt, dass sie beide die ästhetische Vorliebe für das modische Spiel zwischen Kreativität und Dekonstruktion teilten. Die eher konservative Schweiz war ihnen für diesen konzeptionellen Ansatz zu klein. Sie wollten ihre Kollektionen von Anfang an international vermarkten. Der für sie logische Schritt war daher der Wechsel ins Ausland. Dass die Wahl ausgerechnet auf Berlin fiel, war letztlich dem Umstand zu verdanken, dass ein großer Teil ihres Freundeskreises aus Musikern und Künstlern in der deutschen Metropole ansässig war.
In Berlin waren in der zurückliegenden Dekade schon eine ganze Reihe von interessanten Newcomer-Marken gegründet worden. Die waren aber ebenso schnell wieder verschwunden, wie sie kurzfristig für Aufsehen gesorgt hatten, denn sie hatten die hohe Schwelle zur Wirtschaftlichkeit nicht geschafft. Viel spricht dafür, dass Ottolinger, deren beide der Generation Y angehörenden Protagonistinnen die „FAZ" den neuen „Cool Kids der Mode" zugerechnet hatte, dieses Masterproblem meistern wird. Dass es dem Label gelingen dürfte, sich längerfristig auf dem Markt zu behaupten, wozu fraglos beigetragen hat, dass sich das Duo von den teils recht wilden gestalterischen Anfängen verabschiedet hat. Manche Wickelkleider beispielsweise waren so kompliziert geschneidert, dass eine Anleitung zum perfekten Anziehen beigefügt werden musste. Inzwischen ist mehr ästhetische Ruhe eingekehrt, die Klamotten sind laut einer „Spiegel"-Kolumne „unkonventionell-abgespaced, aber nicht untragbar. Dieser Ansatz macht sie zu einem der aktuell spannendsten Nachwuchsteams der Modewelt." Christa Bösch: „Wir sind in unserer Linie auch ein bisschen erwachsener geworden. Das ist eigentlich ganz cool, wir ändern uns ja auch." Wobei es immer noch gar nicht so einfach ist, den Ottolinger-Stil exakt zu beschreiben. Die vor allem in der Schweiz zunächst gebräuchliche Charakterisierung als „Alpen-Punk-Couture" war niemals zutreffend, weil eidgenössische Einflüsse über Materialieneinkäufe hinaus nicht vorhanden sind.
Die deutsche „Vogue", die sich längst als größte Ottolinger-Bewunderin geoutet und jüngst von einem der „spannendsten und zeitgeistigsten – kurzum: coolsten – jungen Labels der Modewelt" gesprochen hat, konnte sich auch nicht zu einer klaren stilistischen Definition durchringen: „Aber alle Versuche, die Ästhetik von Ottolinger in Worte zu packen, scheitern ohnehin meist kläglich und werden dem Ergebnis nicht gerecht. Vielleicht ist es gerade das, was die Arbeit von Christa Bösch und Cosima Gadient so zeitgeistig, so modern macht: Dass es für sie (noch) keine richtigen Worte gibt und dass das einer der seltenen Momente in der Mode ist, die sich erst später, rückblickend, richtig betrachten lassen." Die Lust am Dekonstruieren ist jedenfalls fast immer zu erkennen. „Meist nehmen wir ein vorhandenes Kleidungsstück und verbessern das", so Cosima Gadient, „schneiden etwas weg, fügen etwas neu dazu, bis es passt." Raffinierte Cut-outs und ausgefallene Schnürungen, Schleifen und Kordeln sind daher einige der ständigen Markenzeichen ihrer Kreationen, die zudem mit speziellen Batik-Einfärbungen oder originellen Muster-Kombis wie Gingham mit Tomaten-Print aufwarten können. Die Zusammenarbeit mit Künstlern wird von Ottolinger ganz bewusst gesucht, für die Sommerkollektion 2021 stammten die Print-Entwürfe familienintern von Markus Gadient, für den Winter 2021/2022 von der New Yorkerin Cheyenne Julien.
Entwürfe treffen den Nerv der Zeit
Auch die Verbindung von aufwendiger Handarbeit mit maschineller Produktionsweise zeichnet viele Ottolinger-Klamotten aus. Die sind meist recht figurbetont geschnitten, haben aber für den kommenden Winter erstmals vor allem bei dick gepolsterten Daunenmänteln auch an Weite etwas zugelegt. Die Silhouetten sind häufig kastig gehalten. Überlappende Stoffe, ausgefranste Säume oder zerfetzte Hosenbeine sind ständig wiederkehrende Standards. Zwei Kreationen sind inzwischen schon zu Klassikern des jungen Labels aufgestiegen: Zum einen ein aus mehreren Stoffbahnen gestaltetes und im oberen Bereich allein mit mehreren Schnürungen zusammengehaltenes Midikleid mit hohem Beinschlitz. Zum andern eine Hose mit kleinem Schlag und so weit verzogenem Bund, dass der Verschluss nur asymmetrisch angebracht werden kann. Das Midikleid taucht in der Sommer-Kollektion 2021 in beigefarbenem Jersey und in einer Mesh-Variante auf, die Hose mit künstlerischen Farbverlauf auf Satin oder Jersey. „Wir manipulieren die Stoffe, um mit dem Wort „Couture’ zu spielen", so Christa Bösch, „wir fertigen viele Dinge mit der Hand und lassen es rough, aber immer noch chic und auf eine Art sexy aussehen". Gerade der nur scheinbar kaputte und unfertige Charakter vieler Stücke war der „FAZ" auch schon in der Debüt-Kollektion 2016 aufgefallen: „Kunstvoll ausgebrannte Blusen, zerfranste Jeans, verrückte Anzüge und Kleider, die man gut als Stoff-Frankenstein bezeichnen könnte. Aber gerade damit haben sie den Nerv der Zeit getroffen. In der von Großkonzernen dominierten und deshalb langweilig zu werden drohenden Mode passt das Unpassende gerade ganz gut." Im Zuge des Nachhaltigkeitstrend werden bei Ottolinger auch schon mal Materialien upgecycelt oder Garderobe aus Reststoffen geschneidert: „Es gibt momentan eine Bewegung, die dahin geht, unpolierter, roher und persönlicher zu sein", so Cosima Gadient, „wir entwerfen einen Look und zerstören ihn wieder. Wir nehmen unsere eigenen Inspirationen auseinander. Wir schaffen etwas, was wir selbst nicht verstehen, weil genau das am interessantesten ist." Oft wird im Zusammenhang mit Ottolinger auch das Wörtchen „futuristisch" verwendet. Wobei die „Vogue" nicht mal den Vergleich mit einem der ganz Großen wie Alexander McQueen scheut, weil besonders in der Sommerkollektion 2021 trotz eines neuen Romantik-Touchs dank Rüschenbeifügung vieles genauso daherkomme, wie der legendäre Brite sich die modische Zukunft vorgestellt haben könnte. „Auch spricht aus den neuen Ottolinger-Entwürfen stellenweise eine neue Häuslichkeit, etwas Ursprüngliches", so die „Vogue" bezüglich des aktuellen Sommersortiments, „der häufige Einsatz von Strick, mehr Volumen an vielen Stellen und auch die sanften Farben, allen voran ein weiches Beige, sprechen diese Sprache". Auch die „FAZ" rückte Ottolinger und andere angesagte Aufsteiger-Labels wie Eckhaus Latta, Koché, Wanda Nylon oder Y-Project in eine Reihe mit Design-Legenden wie Martin Margiela oder Rei Kawakubos.
Als einer der ersten Promis hatte Kanye West bereits Anfang 2016 das riesige Kreativ-Potenzial der Schweizer Girl-Power entdeckt. Denn nach einer ersten kleinen Kollektions-Präsentation im September 2015 am Institute of Contemporary Arts in London hatten die beiden Designerinnen die Einladung zur New Yorker Fashion Week Anfang 2016 erhalten, wo sie ihre Entwürfe im Rahmen einer Newcomer-Gruppenausstellung zeigen durften. Der Star-Rapper war davon so begeistert, dass er Bösch und Gadient sogleich als Freelancer für sein Label Yeezy verpflichtet hatte. Im September 2016 konnten die beiden Schweizerinnen auf der New Yorker Fashion-Week daher ein Doppel-Debüt feiern – mit Yeezy und mit ihrer eigenen Ottolinger-Kollektion. Mit ihrer Sommer-Kollektion 2018 wechselten die beiden Designerinnen zur Pariser Fashion-Show und konnten wenig später auch den Schweizer Kulturpreis für Modedesign abräumen. Die „New York Times" stellte Ottolinger ihren Lesern als eine von weltweit fünf herausragenden Newcomer-Marken vor. Rihanna performte in Klamotten des Berliner Labels auf der Bühne. Auch Kim Kardashian, Dua Lipa, SZA oder Bella Hadid waren bald in Ottolinger-Klamotten gesichtet worden. Cardi B hatte Anfang 2021 ihren neuen Song „Up" auf Instagram in einem aufregenden Ottolinger-Look präsentiert, bestehend aus einem geschnürten BH und hoch geschnittenen Leggins.