„Europa ist Zuschauer“

Riesige Investitionsprogramme für die Wirtschaft, die USA als „pacific nation" und der Versuch, die inneren Gräben zuzuschütten – die ersten 100 Tage des neuen US-Präsidenten Joe Biden hatten es in sich. FORUM fragte den Vorsitzenden der Atlantik-Brücker Sigmar Gabriel nach seiner Beurteilung.

Herr Gabriel, Biden hat sein Programm mit Roosevelts New Deal verglichen und von der größten Herausforderung seit dem Bürgerkrieg 1865 gesprochen. Ist das nicht übertrieben?

Man möchte sich fast wünschen, dies sei übertrieben. Aber wer die Bilder vom Sturm auf das Zentrum der amerikanischen Demokratie, vom Sturm auf Capitol Hill, in Erinnerung hat, bekommt einen Eindruck von der inneren Spaltung der amerikanischen Gesellschaft. Sehr große soziale Ungleichheit, struktureller Rassismus und das Gefühl vieler Menschen, dass die politischen, wirtschaftlichen und medialen Eliten des Landes sich nicht mehr für die „working class" und die Landbevölkerung interessieren, sind einige der Ursachen dafür. Und was Biden jetzt nach vielen Jahrzehnten einer eher neoliberalen Wirtschafts- und Finanzpolitik versucht, ist das Anknüpfen an die Erfolge des New Deal unter Roosevelt. Er will die wirtschaftliche Erholung verbinden mit zwei weiteren Aufgaben: Die Transformation zur Klimaneutralität zu schaffen und den vernachlässigten Regionen der USA neue Chancen auf Arbeit und Einkommen zu geben.

Die Impfkampagne, die Unterstützungsschecks, die Infrastruktur­verbesserungen – Warum hat er es mit seinen Plänen so eilig?

Ich finde, jeder in der Politik sollte es eilig haben, wenn es darum geht, die Lebensbedingungen zu verbessern. Was ist denn die Alternative? Abwarten? Und in einer Pandemie gibt es einen zentralen Faktor: Die Zeit! Das Gegenteil von Joe Bidens Impfstrategie haben wir hier in Europa und auch in Deutschland gerade erlebt.

Bedeutet sein 4,1-Billionen-Dollar-Investitionsprogramm, dass der Staat gegen alle Tradition in den USA immer mächtiger wird?

Das Programm versucht erst einmal die dramatischen Infrastrukturdefizite der USA zu überwinden. Der weitgehende Verzicht auf die Rolle des Staates in der Infrastruktur ist ja im wahrsten Sinne des Wortes mit Händen zu greifen. Es ist also vor allem erst einmal innenpolitisch motiviert und das zu Recht. Außenpolitisch haben die USA an internationalem Einfluss ja eher verloren. Zum Teil durch grobe Fehler von Donald Trump, der das Transpazifische Freihandelsabkommen gekündigt hatte. Das war ein Abkommen, dass die USA mit allen Nachbarn Chinas verbunden hätte, um China in gewisser Weise auch einzudämmen. Außerdem gibt es einen ganz natürlichen Verlust relativer amerikanischer Macht durch den gewaltigen Aufstieg Chinas. Joe Biden weiß das und deshalb sucht er erneut die Allianzen, die sein Amtsvorgänger ignoriert und sogar zum Teil bewusst gestört hat.

Bekommt Biden Steuererhöhungen für die Reichen und Superreichen durch?

Solange er über Mehrheiten in beiden Häusern am Capitol Hill verfügt, hat er dafür tatsächlich gute Chancen. Noch wichtiger ist übrigens, dass die USA endlich bereit sind, dem internationalen Steuersenkungswettbewerb mit Mindestbesteuerungen entgegen zu treten. Das würde den vor allem für ärmere Länder ruinösen Wettbewerb um die niedrigste Besteuerung und die schlechtesten sozialen Sicherungssysteme beenden. Der globalisierte Kapitalismus, die weltweite Arbeitsteilung der Marktwirtschaften wird nur dann friedfertige Gesellschaften erzeugen, wenn er sich freiwillig einen sozialen Rahmen gibt. Marktwirtschaft ohne sozialen Rahmen scheitert. National wie international. Ich hoffe, alle lernen das, bevor die Frustrierten und Abhängten die Scheiben klirren lassen.

Wird er es schaffen, die Gräben zu den Trump-Anhängern unter den Republikanern zuzuschütten und die Spaltung Amerikas zu überwinden?

Da gilt: „It needs two to tango". Biden will das, aber so lange die Republikaner glauben, Radikalisierung und Polarisierung seien die richtigen Mittel, um Wahlen zu gewinnen, kann das nicht funktionieren. Ob es zu einem Strategiewechsel der Republikaner zu einer konservativen Mitte-Rechts-Partei kommt, wissen wir erst nach den Zwischenwahlen im November 2022.

In der Außenpolitik hat er zwar in der Klimapolitik und durch den Wiedereintritt in die WHO europäischen Wünschen entsprochen – doch der Blick geht doch eher Richtung Osten?

Joe Biden hat nicht den „europäischen Wünschen" entsprochen. Wer das glaubt, überschätzt Europa und unterschätzt das Selbstbewusstsein amerikanischer Präsidenten. Biden hält beide Entscheidungen für richtig, so wie die USA über Jahrzehnte die liberale Ordnung der Welt, die auf Verträgen und weltweiten Institutionen beruhte, für richtig gehalten hatten. Erst Trump hatte das alles infrage gestellt. Und zugleich geht der Blick der USA seit George W. Bush nach Osten, denn er hat als erster von Amerika als „pacific nation" gesprochen. In Asien leben die meisten Menschen. Dort wird der Großteil des Weltsozialprodukts hergestellt und dort liegen inzwischen die meisten Atommächte. Wer, wenn nicht die USA, sollen sich dieser Herausforderung stellen, um die Welt in der Balance zu halten? Wir Europäer können das nicht alleine.

Was bedeutet die stärkere Hinwendung Richtung Pazifik-Staaten für Deutschland und Europa?

Die USA werden in den kommenden Jahren pazifischer und weniger europäisch. Das sehen wir durch den Abzug des amerikanischen Militärs im Nahen und Mittleren Osten am deutlichsten. Und wo jemand in der internationalen Politik ein Haus verlässt, da dringen andere Mächte ein, weil es in der internationalen Politik kein Vakuum gibt. Das sind derzeit China, Russland, Iran, die Türkei und andere. Nur Europa ist Zuschauer. Ich denke, dass sich das ändern muss, sonst werden wir zum Spielball anderer.

America is back – aber kann man sich noch auf die USA als Schutzmacht verlassen?

Ja, gewiss. Als Donald Trump das mal infrage stellen wollte, hat der gesamte amerikanische Kongress ihm das Gegenteil aufgeschrieben. Das ist nicht die Frage. Aber unterhalb des Schutzes gegen tatsächliche Angriffe auf die NATO Partner der USA, geht es ja auch darum, wer international die Aufgaben übernimmt, die bislang die USA für uns übernommen haben. Europa war ja nie als geopolitischer Akteur konzipiert. Im Gegenteil: Wir sollten uns raushalten aus der Welt, weil es im 20. Jahrhundert immer schrecklich wurde, wenn die Europäer und vor allem die Deutschen sich eingemischt hatten. Europa war gegründet worden, um innerhalb Europas endlich Frieden zu stiften. Für den Rest der Welt hatten wir bisher die Franzosen und die Briten als Mitglieder im UN-Sicherheitsrat, vor allem aber die Amerikaner. Und das ist jetzt vorbei. Europa wird lernen müssen, selbst zum geopolitischen Akteur zu werden. Vor allem durch den Einsatz seiner politischen, diplomatischen und wirtschaftlichen Mittel. Aber im Einzelfall auch durch militärisches Eingreifen dort, wo Mord und Völkermord in unserer Nachbarschaft drohen. Das werden die Amerikaner immer weniger für uns tun.

Werden wir demnächst ein Treffen zwischen Putin und Biden erleben?

Ich hoffe in diesem Jahr. Im Gespräch ist ja Helsinki.