Demokratie lebt von Diskussionen und Parteitage von der Atmosphäre. Nun mangelt es bekanntlich nicht an Diskussionen, aber das mit der Atmosphäre auf digitalen Parteitagen ist so eine Sache. Wie lässt sich die Stimmung vier Monate vor der Wahl einschätzen, wenn es nicht einmal zu beobachten ist, wann Delegierte bei Redebeiträgen lieber untereinander reden oder begeistert applaudieren.
Da kommt so mancher Kollege ins Schwimmen, hat sich doch eingebürgert, mit der Stoppuhr den Applaus für Kandidaten festzuhalten. Was natürlich findige Parteimanager längst spitz gekriegt haben und entsprechend managen, dass nicht nur zwei, drei zentrale Slogans rüberkommen, sondern Applausminuten Auskunft über Kampfbereitschaft dafür liefern. Dabei trifft das die Logik unserer zahlen- und statistikgläubigen Welt. Wenn wir schon nicht wissen, was wir wovon halten sollen, dann helfen Statistiken – und ganz sicher die nächste Blitzumfrage.
Die wiederum interessieren Parteien erstaunlicherweise überhaupt nicht. Oder kennen Sie einen Wahlkämpfer (natürlich auch in weiblicher und diverser Form), der nicht beteuern würde, es gehe schließlich nicht darum, Umfragen zu gewinnen, sondern Wahlen? Trotzdem: Zeichnet sich nicht doch ein klarer Trend ab, schließlich zweimal hintereinander einen Punkt dazu gewonnen? Und was, wenn die Umfragen anscheinend zu gut sind?
Andererseits können Umfrage natürlich auch wichtige Erkenntnisse liefern. Wie jüngst etwa die, dass über 80 Prozent der Befragten sich wünschen, dass Corona bald vorbei ist. Ich frage mich dann nur, was die anderen sich wünschen.
Ich gebe zu, ich bin diesbezüglich – voll im Mainstream – der Meinung, dass sich mal langsam einiges normalisieren müsste, bevor Abstrusitäten zum „Neuen Normal" werden. Aber sind sie das nicht schon längst? Oder sind wir eigentlich schon so gut wie in der postcoronalen Ära?
Mir jedenfalls fehlen die Gespräche im Vereinsheim. Der wichtigste Maßstab, um zu erfahren, was andere, die in anderen Zusammenhängen leben, wirklich denken, was sie im Alltag bewegt. Auch wenn so ein Satz fast schon verklärend-romantisch daherkommt: Der Mensch ist nun mal ein „zoon politikon", ein soziales Wesen, allen digitalen Möglichkeiten, so hilfreich die in bestimmten Situationen sein können, zum Trotz. Noch.