Soziale Gemeinschaftserlebnisse in aerosol-unbedenklicher Umgebung
Wenn sich sogar mein Kumpel, der Backes Herrmann, jetzt fürs Wandern begeistert, ist das ein Zeichen für einen grundlegenden Paradigmenwechsel. Bisher hielt sich der Herrmann nämlich zumeist in der Nähe von Sitzgelegenheiten auf, vornehmlich von solchen, die sich in Biergärten oder Weinstuben befinden. Herrmanns gerader Weg zum Lebensglück bestand bislang im Gemütlich-bei-einem-Getränk-Herumsitzen.
Dann kam die Pandemie. Jetzt wandert er. Wie wir alle. Was soll man auch sonst machen? Und wie zuvor das Gemütlich-Herumsitzen geht der Backes Herrmann nun auch das Wandern mit aller Ernsthaftigkeit an. Er hat sich das Handbuch „111 Traumschleifen – Premium-Rundwanderwege in der Saar-Hunsrück-Region" zugelegt. Das verheißt nichts Gutes. Herrmann will beim Wandern systematisch vorgehen: „Wenn wir jede Woche nur zwei Traumschleifen abhaken, kann der Lockdown noch ein Jahr dauern, ohne dass wir körperlich verfallen."
„Wieso WIR?" Dumme Frage. Herrmann hat mich fest eingeplant. Darum geht’s ja: soziale Gemeinschaftserlebnisse in aerosol-unbedenklicher Umgebung. Will jemand schätzen, wie viele Traumschleifen wir bisher weggewandert haben? Richtig: eine. Die aber war echt okay: mit überschaubarer Länge – neun Kilometer – und im Naturpark Saar-Hunsrück gelegen, fiel Herrmanns Wahl trotz des wenig einladenden Namens „Ochsentour" auf diese Wanderung, weil sich auf der Strecke die Hirschquelle befindet. Aus selbiger kann man gut gekühltes Bier trinken. Nein, es handelt sich dabei nicht um ein Heiligen-Wunder, sondern der örtliche Wanderverein stellt Flaschenbier zur Selbstbedienung bereit. Der Hirschtränkenbach wird durch eine Bütt umgeleitet, in der das Bier steht. Ein Männer-Traum.
Wir wandern die Strecke natürlich so herum an, dass wir gleich auf dem ersten Kilometer auf die Bierquelle stoßen und erleben dort eine herbe Enttäuschung: Während der Pandemie dürfen im Streckenbereich keine alkoholischen Getränke feilgeboten werden. Im kristallklaren, kalten Hunsrückbach wartet lediglich „Kirner alkoholfrei" auf uns. In normalen Zeiten würde der Herrmann so ein Gebräu nicht einmal zum Taubenvergiften nehmen, egal wie gut gekühlt. Aber wo wir schon mal da sind und es sonst nix gibt, werfen wir unseren Obolus ins Getränke-Kässchen, setzen uns auf eine der Bierbänke und genießen alkoholfrei.
Die zweite Flasche schmeckt noch besser als die erste. Wir fühlen uns, trotz Pandemie, psychisch gleich weniger vulnerabel. Bisher dachte ich, ein so wohliges Gefühl käme vom Alkohol – das zweite Bier trinken Herrmann und ich immer schon mit konkreter Wirkungsabsicht. Aber offenbar sorgen das Anwandern, das Plätschern des Baches und der perfekte Kühlungsgrad des Flaschenbiers für ein gutes Gefühl.
Das finden auch Klaus und Emma aus dem Südsaarland, die wir kennenlernen, als sie ihre Bierbank auf 1,50 Meter Abstand zu uns heranrücken. Zwei Studentinnen aus Trier gesellen sich dazu und berichten über bisherige Wandererlebnisse. Nach noch einem Alkoholfreien räumen wir unsere Bank für zwei rüstige Rentner, Wohnmobilreisende aus NRW, die es auch gemütlich haben sollen. Schade eigentlich, dass wir noch acht Kilometer zu wandern haben. Wir überlegen, noch ein Weilchen an der Hirschquelle abzuhängen und von dort zurück zum Parkplatz … Nein, wo wir schon mal da sind, ziehen wir das Abwandern der Strecke durch.
Auf einer Sinnenbank am Wegesrand erleichtern wir den Wanderrucksack, indem wir das mitgebrachte Dosenbier trinken. Danach marschiert es sich noch vergnüglicher und wir stellen fest, dass wir uns tatsächlich ans Wandern gewöhnen könnten, wo sonst eh nichts aufhat – außer dem Hunsrück, der Eifel und ein paar anderen entlegenen Gegenden. „So ist das jetzt eben", meint der Backes Herrmann, „der Hunsrück ist das neue Malle, das Wandern das neue Extrem-Partymachen. Wir sollten uns drauf einstellen."
Noch 110 Wanderwege ‚to go‘. Im Nahetal gibt es angeblich einen, da befindet sich ein Selbstbedienungs-Weinschrank auf der Strecke…