Die Verabreichung von Antibiotika an Kleinkinder kann deren Darmflora nachhaltig schädigen und dadurch das Risiko für Krankheiten wie Allergien, Asthma oder Neurodermitis und sogar für neurophysiologische Störungen wie ADHS deutlich erhöhen.
Als Wunderwaffe gegen alle möglichen Infektionen werden Antibiotika hierzulande häufig noch viel zu leichtfertig verschrieben. Laut einem Report der deutschen Krankenkasse DAK ist jede dritte Antibiotika-Verordnung hierzulande als überflüssig anzusehen. Weil das Medikament häufig gegen Erkältungen oder Infektionen der oberen Atemwege eingesetzt wird, die allesamt durch Viren hervorgerufen werden und gegen die daher Antibiotika völlig wirkungslos sind. Nur wenn sich im Verlauf eines ursprünglich von Viren ausgelösten Infekts Bakterien gewissermaßen auf diesen draufsetzen, wird die Gabe von Antibiotika erforderlich sein. Gleiches gilt natürlich auch bei rein bakteriellen Lungen- oder Mandelentzündungen sowie Scharlach oder Hirnhautentzündung. Die Weltgesundheitsorganisation WHO warnt seit Jahren vor den Gefahren einer steigenden Keimresistenz infolge unsachgemäßer Antibiotika-Verabreichung, laut aktuellen Angaben der WHO werden in vielen Ländern mehr als die Hälfte der Antibiotika falsch eingesetzt. Auch weil bis zu 90 Prozent aller Fälle von Erkältungen allein durch Viren verursacht werden.
Stellen die stetig wachsenden Antibiotika-Resistenzen für Erwachsene schon ein großes Problem dar, so können die Medikamente bei zu häufiger Verabreichung schon im Frühkindesalter gravierende Gesundheitsfolgen haben. Generell werden Antibiotika für Kids im Vergleich zu Erwachsenen viel öfter verschrieben und meist als pulvriger, zuvor in Wasser aufgelöster Trockensaft verabreicht. Schätzungen zufolge sind bis zu 50 Prozent der ärztlichen Verordnungen nicht gerechtfertigt. Woran manche Eltern nicht ganz unschuldig sind, weil sie laut einer Untersuchung der PMV-Forschungsgruppe, einem interdisziplinär-wissenschaftlich arbeitenden Team an der medizinischen Fakultät der Universität Köln, von dem behandelnden Arzt für ihr krankes Kind häufig die Verschreibung von Antibiotika gleichsam einfordern. Die Entscheidung pro oder contra Antibiotika ist für den Arzt meist nicht ganz einfach zu treffen, weil letztlich nur ein Test sichere Auskunft darüber geben kann, ob eine Erkrankung bakteriellen Ursprungs ist. Früher war dafür ein Bluttest nötig, dessen Ergebnis aber erst nach zwei Tagen vorgelegen hatte. Vor zwei Jahren wurde im deutschen hohen Norden ein Schnelltest als Modellprojekt gestartet, mit dessen Hilfe Ärzte schon nach vier Minuten mittels ein paar Tropfen Blut ermitteln können sollen, ob eine virale oder bakterielle Erkrankung vorliegt. Laut einem ersten Fazit der AOK Sachsen-Anhalt konnten die Ärzte bei 40 Prozent der Getesteten anschließend auf eine Antibiotika-Verordnung verzichten. Weshalb die AOK die Ärzteschaft aufgefordert hatte, künftig möglichst von diesem sogenannten CRP-Test, bei dem zur schnellen Unterscheidung zwischen bakteriellen und viralen Erkrankungsursachen die Konzentration des sogenannten C-reaktiven Proteins im Blut gemessen wird, ausgiebig Gebrauch zu machen.
Sowohl beim Säugling als auch beim Kleinkind sind durch Viren ausgelöste Atemwegsinfekte keine Seltenheit, bis zu acht solcher Infekte pro Jahr sind absolut nicht ungewöhnlich. Auch wenn viele Eltern sich wünschen, dass ihr Kind möglichst schnell wieder gesund werden soll, ist häufig das Notfall-Rezept Antibiotikum die falsche Lösung. Dennoch erhält in der Altersgruppe der Zwei- bis Vierjährigen mehr als jedes zweite Kind laut AOK-Angaben mindestens einmal pro Jahr ein Antibiotikum. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine Bertelsmann-Studie, der zufolge über die Hälfte der Kinder zwischen drei und sechs Jahren mindestens einmal pro Jahr Antibiotika verschrieben bekommen. Was wohl auch damit zusammenhängen dürfte, dass laut dem Barmer-Arztreport 58 Prozent der unter fünfjährigen Kleinkinder jährlich von einer akuten Infektion der oberen Atemwege betroffen sind.
Während einer Antibiotika-Therapie bekommen viele Kinder Durchfall, ein erstes Indiz dafür, dass dabei die Darmflora in Mitleidenschaft gezogen wird, was längst auch durch diverse klinische Studien bestätigt werden konnte. Besonders bei Babys, die steril zur Welt kommen und deren Immunsystem erst noch aufgebaut werden muss, gilt es größte Vorsicht beim Einsatz von Antibiotika walten zu lassen. Ihr kleiner Körper muss sich erst einmal an die menschlichen Bakterien gewöhnen und dabei besonders im Darm ein Gleichgewicht von verschiedensten Bakterienarten ausbilden. „Wenn sie da mit dem Holzhammer reingehen und wichtige Bakterien durch eine fehlerhafte Antibiotikagabe ausknocken", so Prof. Johannes Hübner, Abteilungsleiter Infektiologie am Klinikum der Universität München in einem Statement gegenüber der „Welt", „kommt die Flora ins Trudeln."
Verschiedene frühere Studien hatten bereits gezeigt, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen der Gabe von Antibiotika im Baby- und Kleinkindalter und der Entstehung einzelner Krankheiten wie Allergien gibt. Jüngst haben nun US-Wissenschaftler der amerikanischen Mayo Clinic und der Rutgers Universität in New York unter Federführung von Dr. Zaira Aversa erstmals eine mögliche Verbindung zwischen bakterientötenden Mitteln und einer ganzen Vielzahl an potenziell mit der Schädigung der kindlichen Darmflora verknüpften Erkrankungen wie der Entwicklung von Verdauungsstörungen, Erkrankungen des Immunsystems oder Fehlstörungen des Verhaltens aufzeigen können. Die Ergebnisse ihrer Forschungen, für die sie die Gesundheit von 14.500 Kindern untersucht hatten, die zwischen 2003 und 2011 in den US-Bundesstaaten Wisconsin und Minnesota geboren worden waren, hatten sie Ende 2020 im Fachmagazin „Mayo Clinics Proceedings" veröffentlicht.
Hintergrund der Studie war das wissenschaftliche Allgemeingut, dass Antibiotika nicht nur gefährliche Krankheitserreger beseitigen, sondern auch nützliche Bakterien im Darm vernichten können. Und dass speziell bei Kleinkindern die Gabe von Antibiotika das Risiko für bestimmte Krankheiten merklich erhöhen kann. Das US-Team konnte zunächst einmal ermitteln, dass rund 70 Prozent der kindlichen Probanden bereits bis zum Alter von zwei Jahren Antibiotika eingenommen hatten, vor allem gegen Infektionen der Atemwege und des Mittelohrs. Daraufhin überprüften die Forscher, welche Kinder im Lauf ihres Lebens häufiger an Asthma, Allergien, Neurodermitis, ADHS, Übergewicht und Zöliakie (Glutenunverträglichkeit) erkrankten, wobei die 30 Prozent der noch nicht mit Antibiotika in Kontakt gekommenen Kids zum Vergleich herangezogen werden konnten. „Wir stellten fest", so Dr. Zaira Aversa, „dass Kinder, die in den ersten zwei Lebensjahren mit gängigen Antibiotika wie Penicillin, Cephalosporinen und Makroliden behandelt wurden, mit höherer Wahrscheinlichkeit Asthma und allergischen Schnupfen entwickelten. Auch das Risiko für Neurodermitis, Nahrungsmittelallergien und Zöliakie war in dieser Gruppe signifikant erhöht."
Die frühe Antibiotikagabe kann auch gravierende neurophysio-logische Folgen haben
Die Ursache für diese späteren Erkrankungen könnte den Wissenschaftlern zufolge im Darm liegen – weil das frühkindliche Mikrobiom in seiner Entwicklung noch sehr anfällig für Antibiotika und daher durch die Medikamente leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen sei, was schwerwiegende Gesundheitsfolgen haben könne. Weitere Untersuchungen legten den Verdacht nahe, dass das Erkrankungsrisiko dosisabhängig ist. Demnach erkrankten Kinder, die die Medikamente häufiger und in höheren Dosen zu sich genommen hatten, in ihrem späteren Leben deutlich öfter. Vor allem die Verabreichung von Antibiotika in den ersten sechs Lebensmonaten erhöhte das Risiko für gesundheitliche Spätfolgen deutlich. Daraus zogen die Wissenschaftler den Schluss, dass eine frühe Schädigung des Mikrobioms im Darm dauerhaft fortbestehen bleiben kann. „Wir vermuten", so Dr. Aversa, „dass die Antibiotika solche Immunkrankheiten durch eine Störung des Mikrobioms während einer entscheidenden Entwicklungsphase fördern."
Neben den Immunkrankheiten könnte die frühe Antibiotikagabe über das geschädigte Mikrobiom aber auch gravierende neurophysiologische Folgen haben. „Wir haben signifikante Zusammenhänge zwischen Antibiotika-Einnahmen in den ersten beiden Lebensjahren und ADHS bei beiden Geschlechtern festgestellt. Zudem beobachteten wir ein signifikant erhöhtes Risiko für Autismus und Lernstörungen, aber nur bei Gabe von Cephalosporinen." Weil Kollegen in früheren Studien nicht zwischen den verschiedenen Antiobiotika-Klassen unterschieden hatten, könne man nun verstehen, dass diese Wissenschaftler bei ihren Untersuchungen keinen Zusammenhang zwischen frühen Antibiotika-Gaben und neurophysiologischen Entwicklungsstörungen hätten feststellen können. Das Team um Dr. Zaira Aversa musste allerdings die Einschränkung machen, dass mit seinen Forschungen nur Korrelationen aufgewiesen werden konnten, jedoch noch kein Beweis eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen frühkindlichen Störungen des Mikrobioms durch Antibiotika und gesundheitlichen Spätfolgen. Dennoch gaben die Forscher der internationalen Ärzteschaft folgenden Ratschlag mit auf den Weg: „Die Ergebnisse sollten die Praxis der Ärzte in Bezug auf die Häufigkeit der Verschreibung von Antibiotika verändern", so Co-Autor und Mikrobiologe Prof. Martin J. Blaser von der Rutgers Universität, „insbesondere bei leichten Erkrankungen."
Von den früheren Studien gilt vor allem eine Forschungsarbeit der Universität Helsinki unter Leitung von Katri Korpela aus dem Jahr 2016 als richtungsweisend. Weil darin erstmals nachgewiesen werden konnte, dass der Einsatz von Antibiotika im Kleinkindalter die Entwicklung der Darmflora behindern und gesundheitliche Risiken für Übergewicht oder Asthma deutlich erhöhen kann. Wobei die finnischen Wissenschaftler Spätfolgen vor allem der Einnahme von Makroliden zugeschrieben hatten, während sie bei Penicillin keine so starke Veränderung der Bakteriengemeinschaft im Darm feststellen konnten. Die meisten Veränderungen in der Darmflora waren laut den Forschern ein Jahr nach der Antibiotika-Einnahme wieder verschwunden, dennoch blieb die Artenvielfalt über einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren reduziert. „Wenn ein Kind wiederholt Antibiotika in den ersten Lebensjahren bekommt", so Katri Korpela, „hat das Mikrobiom womöglich nicht ausreichend Zeit, sich völlig zu erholen." Selbst eine nur vorübergehende Beeinträchtigung der Darmbakteriengemeinschaft im frühen Lebensalter könnte sich den finnischen Forschern zufolge langfristig auf den Stoffwechsel und das Immunsystem auswirken. Einer dänischen Studie aus dem Jahr 2014 zufolge barg eine Behandlung von Babys mit Makrolid-Antibiotika die große Gefahr der Ausbildung einer Pylorusstenose, einer Verengung des Magenausgangs. Eine US-Studie hatte 2015 einen Zusammenhang zwischen früher Antibiotika-Verabreichung und der Ausbildung von Kinder-Rheuma nahegelegt. Zuletzt hatten niederländische Wissenschaftler 2017 herausgefunden, dass bei Kindern, die in den ersten zwei Lebensjahren Antibiotika bekommen hatten, die Wahrscheinlichkeit, später Heuschnupfen, Kontaktekzeme oder Lebensmittelallergien zu entwickeln, deutlich erhöht war.