Harald Baumeister, Professor für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Ulm und Leiter der angeschlossenen Psychotherapeutischen Hochschulambulanz, verfasste mit Kollegen die Empfehlungen zur videokonferenzbasierten Psychotherapie der Deutschen Gesellschaft für Psychologie.
Herr Prof. Baumeister, seit Corona nutzen wir viel häufiger Videokonferenzen als zuvor. Manche sind begeistert, andere genervt. Wie geht es Ihnen damit?
Wenn ich viele hintereinander habe, merke ich schon, dass es anstrengend wird. Ich werde dann müde und bekomme auch mal trockene Augen. Wie immer muss man sich an ein neues Medium erst einmal gewöhnen. Auf der anderen Seite schätze ich die Verfügbarkeit, den Abbau von Barrieren und das Einsparen von Reisezeit. In der Covid-Pandemie hat sich die Video-Technologie ja sehr bewährt. Man kommt zusammen, wo man sonst nicht zusammengekommen wäre.
Welche Vorteile hat der Einsatz von Video in der Psychotherapie?
Praktische Vorteile, wie gerade schon aufgezählt. Es ermöglicht Patienten, ihre Behandlung trotz der Gefahr durch das Virus fortzusetzen oder während der Pandemie eine Therapie zu beginnen. Für die Patienten sind Videogespräche oft auch einfacher umzusetzen. Eine Psychotherapie ist immerhin ein wöchentlicher Termin, den sie zwischen Arbeit und Familie unterbringen müssen. Das ist jedes Mal eine knappe Stunde plus Anfahrt. Wenn Menschen die Möglichkeit haben, die Sitzungen flexibel per Video zu gestalten, entscheiden sich vielleicht manche für eine Therapie, die sonst vor dem Aufwand zurückgeschreckt wären. Wenn jemand umzieht, ist es zudem ein Weg, den Therapeuten nicht mittendrin wechseln zu müssen.
Muss man dafür Abstriche bei der Wirksamkeit in Kauf nehmen?
Nein. Studien zeigen, dass Psychotherapie per Video wirkt, und zwar ähnlich gut wie eine Therapie vor Ort. Das belegt unter anderem eine Metaanalyse von US-Forschern, die im Februar 2021 im „Clinical Psychology Review" erschienen ist. Sie analysierten dafür 57 Studien zu videobasierter Verhaltenstherapie unter anderem bei Depressionen, Essstörungen, Angststörungen, Zwangsstörungen und Posttraumatischer Belastungsstörung. Das Ergebnis: Video-Psychotherapie reduzierte die Symptome vergleichbar gut wie eine klassische. Auch die Genauigkeit der Diagnosen unterschied sich nicht deutlich von der Vor-Ort-Behandlung. Ein wesentlicher Teil der wissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema stammt aus den USA und wurde im militärischen Kontext durchgeführt. Dort gibt es ein besonderes Interesse an psychologischer Betreuung über weite Entfernungen hinweg – etwa von traumatisierten Soldaten, die im Ausland stationiert sind. Die positiven Befunde waren schon vor Corona bekannt. Nur hatte hierzulande in der Praxis bislang kaum jemand die Videotechnologie genutzt.
Und wie sieht es jetzt aus?
Mittlerweile haben viele Psychotherapeuten ihr Angebot ausgeweitet und gute Erfahrungen damit gemacht. Ich bekomme die Rückmeldung, dass die Kollegen gut damit zurechtkommen. Bei im Schnitt acht Patienten pro Tag kann das außerdem eine willkommene Abwechslung sein, auch wenn es nur das Medium betrifft. Corona hat der Psychotherapie per Video einen Innovationsschub gegeben.
Wie kann man sich eine Psychotherapie per Video vorstellen?
In Zeiten der Pandemie kommt es vor, dass die gesamte Therapie per Video abläuft. Sonst trifft man sich aber in der Regel zunächst persönlich zum Kennenlernen, zur Diagnostik und zur weiteren Therapieplanung. Dann folgen die Videotermine, die im Grunde wie ganz normale Therapiesitzungen ablaufen.
Nun ist der Patient ja aber in der Regel zu Hause, wo parallel das Kind etwas will, die Waschmaschine piept und die Katze über den Schreibtisch läuft.
Das stimmt. Deswegen haben wir von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie explizite Empfehlungen zur Durchführung herausgegeben. Eine gelungene Sitzung erfordert etwas Vorbereitung. Technische Geräte wie das Smartphone sollte man ausschalten, um Ablenkung zu vermeiden. Ich empfehle Patienten, für eine ruhige, sichere und konzentrierte Atmosphäre zu sorgen. Nehmen Sie sich vor Beginn 20 Minuten Zeit für sich und treten Sie einen Schritt aus Ihrem beschleunigten Leben zurück. Dafür können Sie auch ein kleines Ritual einführen. Machen Sie sich einen Tee oder führen Sie eine kurze Atemübung durch – Hauptsache, es tut Ihnen gut. Auch aus Datenschutzgründen ist es wichtig, eine ruhige und ungestörte Umgebung zu schaffen.
Wie wird der Datenschutz technisch gewährleistet?
Wir arbeiten nicht mit Zoom oder Skype. Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen eine Videotherapie nur, wenn sie korrekt über zertifizierte Dienste abläuft. Diese zertifizierten Plattformen sind sicher und Ende-zu-Ende-verschlüsselt. Sie dürfen auch keine Aufzeichnungen ermöglichen, da es sich hier um hochsensible Daten handelt, die wir in jeglicher Hinsicht schützen müssen. Diese Standards sind gegeben. Wenn Familienmitglieder oder Mitbewohner in der Wohnung sind, sollte man sich in ein Zimmer zurückziehen, in dem man nicht unterbrochen wird und idealerweise auch für Dritte nicht zu hören ist.
Auch in einer ruhigen Umgebung bleibt doch eine räumliche Distanz zwischen Patient und Behandler. Fehlt da womöglich eine gewisse Intimität?
Es ist auf jeden Fall anders. Sie haben natürlich keinen unmittelbaren Blickkontakt. Oft schaut man dem Gegenüber aus Gewohnheit in die Augen statt in die Kamera. Das erfordert mit Sicherheit eine Umstellung. Eine weitere Metaanalyse zeigte, dass die Bindung zwischen Therapeut und Patient etwas schlechter ist als im persönlichen Kontakt. Auf die Reduktion der Symptome hatte das allerdings keinen Einfluss. Das größte Hindernis für die Beziehungsgestaltung sind wohl technische Ausfälle. Ruckelt das Bild, setzt der Ton an einer entscheidenden Stelle aus, dann stört das den Gesprächsfluss und gefährdet den emotionalen Draht zum Therapeuten. Gegenüber der Therapie per Telefon haben wir aber zum Beispiel einen entscheidenden Vorteil: Wir können zusätzlich zur Stimme Mimik und Gestik des Patienten erkennen. Das sind wichtige Informationen, um Gesagtes richtig zu deuten.
Für welche Patienten kommt eine Therapie per Video infrage?
Die Forschung auf dem Gebiet ist leider noch nicht so weit, dass wir sicher sagen können: Für diese Patienten ist videobasierte Therapie geeignet, für diese weniger. Wir sehen bisher über viele Störungen hinweg gute Ergebnisse. Wo man vorsichtig sein sollte, sind akute Krisen. Hat ein Patient Selbstmordgedanken oder ist er sehr verzweifelt, dann wäre es fatal, wenn plötzlich die Verbindung abbricht. In diesen Fällen bietet sich aber ohnehin oft eine stationäre Behandlung eher an als eine ambulante Psychotherapie. Zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen gibt es auch noch wenige Studien. Es ist aber durchaus möglich, mit Kindern ab einem gewissen Alter über Video zu arbeiten. Schwierigkeiten, sich auf eine Videositzung einzulassen, könnten eventuell Menschen mit Problemen bei der Impulskontrolle haben. Dazu gehören Menschen mit ADHS, mit Borderline-Persönlichkeitsstörung oder mit einer bipolaren Störung in einer manischen Phase.
Geht der Trend insgesamt zu einer Digitalisierung der Psychotherapie?
Die Digitalisierung liefert uns viele neue Ansätze. Neben der videokonferenzbasierten Therapie gibt es sogenannte E-Mental-Health-Angebote. Solche Online-Interventionen sind meist für den Browser konzipiert. Der Patient absolviert dann bestimmte Module am Computer, die sich an erprobten Bausteinen der Verhaltenstherapie oder anderer Therapieverfahren orientieren, beispielsweise bei Depressionen oder Angststörungen. Diese haben sich als wirksam erwiesen – vor allem wenn ein Psychotherapeut den Online-Kurs als Ansprechpartner begleitet. Solche Angebote oder vermehrt auch Apps, die speziell für das Smartphone entwickelt wurden, können begleitend zu einer Psychotherapie vor Ort zum Einsatz kommen. Über Wiederholungen des Gelernten oder Übungen zwischen den Sitzungen lässt sich auf diese Weise sozusagen die Dosis der Therapie erhöhen. Seit 2020 gibt es durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte zertifizierte digitale Gesundheitsanwendungen auch verschreibbar auf Rezept.
Wie könnte sich die Videotherapie weiterentwickeln?
Es wäre möglich, die Sensorik der verwendeten Geräte für die Diagnostik zu nutzen, etwa um die Stimme des Patienten zu analysieren oder mit einer Smartwatch seinen Puls zu messen. Das könnte dem Therapeuten Rückmeldung über körperliche und emotionale Erregung geben, wenn der Patient über ein bestimmtes Erlebnis spricht – um da gegebenenfalls genauer nachzuhaken. Gerade wenn jemand etwas sehr ruhig erzählt, sich aber in der Physiologie etwas anderes zeigt, könnte das heißen, dass da noch mehr schlummert. Ein weiterer spannender Gedanke ist die simultane Sprachübersetzung. So hätten wir vielleicht irgendwann keine Sprachbarrieren mehr und könnten zum Beispiel Geflüchtete besser behandeln.
Wie finden Sie diese Aussichten?
Ich sehe die technischen Entwicklungen erst einmal positiv, weil sie uns mehr Möglichkeiten eröffnen. Allerdings: Wenn wir unkritisch alles umsetzen, was technisch möglich ist, kann das zum Bumerang für die Versorgung werden. Wir müssen genau im Blick behalten, welche Tools wirklich zielführend für Patientinnen und Patienten sind. Dann birgt die Digitalisierung große Chancen für die Psychotherapie.
Werden Therapeut und Patient also in Zukunft immer seltener in einem Raum sitzen?
Aus wissenschaftlicher Sicht spricht nicht viel dagegen, aber es ist sicherlich vernünftig, nicht gleich unser komplettes Versorgungssystem auf den Kopf zu stellen. Einige Menschen haben Bedenken, und es ist auch eine gesellschaftliche Frage, wo wir im Kontext der ganzen Digitalisierung hinwollen. Ich glaube, wir müssen uns Zeit geben, uns mit den technischen Möglichkeiten bekannt zu machen und einen sinnvollen Umgang damit zu lernen. Am Ende sollte der beste Weg für die Gesundung des Patienten über das Behandlungssetting entscheiden.