Die Fronten verhärten sich, von Debattenkultur ist zunehmend weniger zu sehen. Andrej Goduljan und Sabrina Wägerle wollen die Spaltung in der Gesellschaft nicht hinnehmen. Das Motto ihrer Initiative: Triff deinen konträren Gegenpart und hör ihm zu!
Corona-Pandemie oder Corona-Diktatur? Welches der beiden Wörter halten Sie spontan für salonfähiger? Der erste Begriff wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2020 gekürt. Der zweite wurde zum Unwort erklärt. Die Gegenüberstellung der beiden Substantive spiegelt ein gesellschaftliches Stimmungsbild wider. Vielleicht ist sie auch ein Seismograf für die derzeitige Debattenkultur.
Erst neulich schlugen die Wellen der Diskussion hoch, als es um die Aktion der Filmdarsteller und Schauspielerinnen von #allesdichtmachen ging. Es scheint, als ginge es nur noch um unüberbrück-bare Positionen. Als gebe es nur schwarz oder weiß. Entweder ist man Ewiggestriger und wird womöglich noch als alter, weißer Mann gelabelt, oder man ist Genderstern-Freund*in. Entweder ist man Klimaleugner oder Klimaschützer. Oder man passt seit Frühjahr 2020 in eine der beiden neuen Schubladen: Corona-Verharmloser oder Corona-Bezwinger. Der gesellschaftliche Riss geht zum Teil schon durch ganze Familien und Freundeskreise. Können wir überhaupt noch miteinander reden, wenn wir konträre Positionen haben?
„Doch, das können wir", meint Andrej Goduljan von der Berliner Initiative „Begegungs Werkstatt". „Wir können miteinander und über alles reden, gerade bei schwierigen Themen. Ich glaube, dass es eher die Erwartungshaltung an ein bestimmtes Thema ist, die es schwer macht, als das Gespräch selbst." Der 37-Jährige spielt damit an auf den therapeutischen Effekt beim Aussprechen heikler Themen sowie beim Herauswagen aus der eigenen Filterblase. „Wenn man das einmal selbst erlebt hat, weiß man, wie schön, befreiend und lehrreich solche Gespräche sind", sagt er. Und merkt, wie notwendig sie seien, besonders für diejenigen, die am meisten Angst davor hätten. Nach dem Motto „Triff deinen konträren Gegenpart und hör ihm zu!" will der Wahl-Berliner mit ukrainischen Wurzeln der gesellschaftlichen Spaltung entgegenwirken. „Ich wollte ein Projekt entwickeln, in dem ich Begegnungen zwischen Menschen organisiere, die verfeindet sind oder auf verschiedenen Seiten einer gesellschaftlichen Spaltung stehen", sagt er. Andrej Goduljan ist davon überzeugt, dass es möglich ist, Menschen mit konträren Positionen raus aus ihrer „Bubble" zu holen. Dabei setzt er auf ganz persönliche Treffen von Angesicht zu Angesicht durch eine achtsame Begleitung seines ehrenamtlichen Teams. „Das sind Begegnungen, wo Menschen sich einander zuhören können, nicht nur in den Inhalten, von Mensch zu Mensch."
Die humanitäre Idee steht auch für Andrej Goduljans Teampartnerin Sabrina Wägerle im Vordergrund. „Es geht darum, das Gefühl der Fremdheit gegenüber anderen zu überwinden", ergänzt sie. „Auf einen anderen Menschen zugehen, seine Geschichte anhören, Vertrauen aufbauen und Themen ansprechen, die das Gegenüber möglicherweise emotional betroffen machen."
Von Angesicht zu Angesicht
Die Initialzündung zu der Idee kam Andrej Goduljan während seiner Mitarbeit bei dem Filmkunstprojekt Dau. Für die Dokumentarfilmreihe von Ilya Khrzhanovsky führte der damalige Filmemacher mehr als 1.000 Einzelgespräche. Er sprach dabei unter anderem mit Sterbebegleitern, Gewaltverbrechern und Menschen, die besondere sexuelle Vorlieben wie etwa BDSM-Praktiken haben. „Ich habe viel gelernt durch diese Gespräche", erzählt der 37-Jährige. „Vor allem habe ich gelernt, dass egal, wie konträr die Menschen sind, es möglich ist, Begegnungen zu organisieren und dass die Menschen das wollen." Mittlerweile ist diese Idee zu einer Lebensaufgabe geworden, der er sich verschrieben habe.
Außer Sabrina Wägerle engagieren sich noch knapp zwei Dutzend Ehrenamtliche in dem Projekt. Darunter unter anderem Mediatoren, Traumatherapeuten und ein Politologe.
Scheinbar unermüdlich sucht Andrej Goduljan immer wieder das Gespräch mit fremden Menschen. Dabei sagt er von sich selbst, dass er als Einzelkind lange Zeit ein introvertierter Mensch gewesen sei. Doch seine Berufserfahrung als Filmemacher und Veranstaltungsmanager haben ihn verändert. Auch Sabrina Wägerle hat sich selbst früher als introvertiert wahrgenommen. „Mit anderen, vor allem fremden Menschen zu sprechen, war in jungen Jahren schwierig für mich", erinnert sich die heute 34-Jährige. „Für mich war die Reise in die Fremde der Schlüssel, mich der Welt zu öffnen." Die Japanologin lebte nach ihrem Studium drei Jahre lang in Tokio. Dadurch habe sie erfahren, welche andere Weisen zu kommunizieren möglich seien. „Die Freude des Kommunizieren-Wollens und auch des Scheiterns, die der ‚Begegnungs Werkstatt‘ innewohne, kenne ich daher aus erster Hand."
Während sich Sabrina Wägerle zurzeit hauptsächlich um das Projektmanagement kümmert, ist Andrej Goduljan meist auf Achse. Zum Beispiel auf einer der zahlreichen Demonstrationen in Ber-lin. Er ist berührt von den Sorgen und Nöten, die die Demonstrierenden auf die Straße treibt. „Auf den Demos und den Gegendemos habe ich den Schmerz erlebt, den diese Menschen erfahren", er-zählt er. „Ich habe zum Beispiel auf einer Anti-Corona-Demo mit betroffenen Eltern gesprochen, deren Kinder unter der Maske leiden, die Kopfschmerzen und Depressionen haben." Danach war er auf einer Gegendemonstration. „Dort habe ich jemanden getroffen, die beide Elternteile an oder mit Corona verloren hat." Jede Geschichte sei einmalig, resümiert er. Das Etikettieren helfe den Menschen weniger. „Das Wichtigste ist, die Betroffenen anzuhören." Und sie nach den Erstgesprächen behutsam zusammenzubringen.
Mittlerweile haben Andrej Goduljan und sein Team die ersten Begegnungen in die Wege geleitet. So kamen wöchentliche Gesprächskreise zwischen Menschen aus der Querdenker-Bewegung und der Antifa zustande. Auch habe er an der Rigaer Straße in Berlin-Friedrichshain Gentrifizierungsbetroffene und die neuen Hauseigentümer zusammengebracht. Und kürzlich organisierten die Macher der „Begegnungs Werkstatt" einen Kommunikations-Workshop für den Verein Kiezconnect.
Die Macher der „Begegnungs Werkstatt" wollen sich jetzt darauf konzentrieren, persönliche Treffen zwischen nur zwei Menschen zu begleiten. Das Konzept dazu steht schon. Bislang ist die „Begegnungs Werkstatt" ein ehrenamtliches Projekt, das noch keine Rechtsform hat. Es lebt von der Mitarbeit seiner Unterstützer und sucht noch weitere. Es gibt noch viel zu tun in Sachen Dialogkultur. „Ich habe mich einer konkreten Lebensaufgabe verschrieben", sagt Andrej Goduljan. „Sie wird mich noch viele Jahre beschäftigen", sagt er. „Vielleicht bis ans Ende meines Lebens."