Müssen Bäume gefällt werden, um die Verkehrssicherheit zu erhöhen? Darüber tobt schon lange ein politischer Streit. Eine neue Studie legt nahe, dass andere Methoden genauso effektiv sind.
Was tut man nicht alles, um einen Baum zu retten? Auf Rügen, Deutschlands größter und alleenreichster Insel, offenbar sehr viel. Seit Jahren engagieren sich Aktivisten für den Erhalt von Kastanien, Rotbuchen und Eichen, die dicht neben den Landstraßen stehen. Sie sammeln Unterschriften, halten Vorträge, verklagen Straßenverkehrsbehörden oder malen weiße Kreuze auf Bäume, die gefällt werden sollen. Manchmal haben sie damit Erfolg, oft aber auch nicht.
„Es gibt Tage, an denen wundere ich mich, dass überhaupt noch ein Baum steht“, sagt Katharina Dujesiefken, Alleen-Beauftragte beim Umweltverband BUND in Mecklenburg-Vorpommern. Auf Rügen habe man vor einigen Jahren mehr als 5.000 Unterschriften gesammelt, um den Ausbau einer Bundesstraße zu verhindern – vergeblich. Andererseits seien im Anschluss neben der Straße viele Bäume wieder nachgepflanzt worden. „Die Behörden wissen genau, dass es Proteste gibt“, sagt Dujesiefken. „Unsere Aktionen sind also nie ganz umsonst.“ Besser ein neu gepflanzter Baum als gar kein Baum.
Der Konflikt schwelt seit Jahren, besonders in Bundesländern wie Mecklenburg-Vorpommern oder Brandenburg, wo Landstraßen das Verkehrsgeschehen dominieren. Entsprechend häufig kommt es in diesen Regionen zu Baumunfällen: In Brandenburg etwa kamen fast die Hälfte aller auf Landstraßen getöteten Personen im Zusammenhang mit einem Baum ums Leben. Der Streit ist also programmiert: Die einen sehen die Kreuze, die Naturschützer auf die Rinde malen, und möchten die zum Teil mehr als 100 Jahre alten Pflanzen erhalten. Die anderen betrachten die Kreuze, die neben der Fahrbahn stehen und an verunfallte Autofahrer erinnern. Lieber ein Baum weniger als ein toter Mensch.
Konflikt zwischen Naturschutz und Verkehrssicherheit
Doch ist es wirklich so einfach? Lässt sich der Konflikt zwischen Naturschutz und Verkehrssicherheit auf die Frage reduzieren, ob ein Baum weg muss oder bleiben darf? Eine neue Studie der Unfallforschung der Versicherer (UDV) legt nahe, dass Fällungen meistens gar nicht erforderlich sind. Die UDV hat die Programme untersucht, mit denen die einzelnen Bundesländer versuchen, Baumunfälle zu verhindern. Demnach würden Geschwindigkeitskontrollen, Leitplanken, rot-weiße Kurventafeln und Tempolimits nahezu den gleichen Effekt erzielen.
Durch derartige Maßnahmen habe man in den vergangenen Jahren schon viel erreichen können: So war 1995 noch fast jeder dritte Getötete auf Landstraßen ein „Baumtoter“; 2019 hingegen nur noch jeder vierte. Auch nimmt die Gesamtzahl der Unfalltoten in Deutschland seit Jahren ab.
Das Grundproblem allerdings bleibt. „Wenn ich mit 120 km/h seitlich gegen einen Baum pralle, ist die Überlebenschance gleich null“, sagt UDV-Leiter Siegfried Brockmann. „Ein Baum gibt einfach keinen Zentimeter nach.“ Um eine Knautschzone zu schaffen, müssten die „nicht verformbaren punktuellen Einzelhindernisse“ – wie Bäume im Amtsdeutsch heißen – also mit Leitplanken versehen werden. Laut Brockmanns Berechnungen wäre dies in 80 bis 90 Prozent aller Fälle möglich. Doch nur acht Prozent aller Straßenbäume sind tatsächlich auf diese Weise geschützt.
„Nicht alle Bundesländer haben das Thema auf der Agenda“, schlussfolgert Brockmann. In fünf von 13 Bundesländern – die Stadtstaaten wurden nicht befragt – sind gar keine Projekte gegen Baumunfälle vorgesehen. Sieben Bundesländer sehen Tempolimits an Unfallschwerpunkten vor; vier wollen ihre Verkehrskontrollen verstärken. Dabei wären gerade diese beiden Maßnahmen entscheidend, um die Sicherheit zu erhöhen. „Wenn wir es schaffen, das Tempo zu reduzieren, ist schon viel gewonnen“, sagt Brockmann. „Ich befürworte deshalb den Beschluss des Deutschen Verkehrsgerichtstags, das Tempolimit auf kleinen Landstraßen auf 80 km/h zu reduzieren.“
Nur acht Prozent der Bäume entsprechend abgesichert
Der Unfallforscher weiß, dass solche Forderungen auf Widerstand stoßen. Oft seien es Landräte, die sich verschärften Tempolimits verweigern – die Landbevölkerung solle schließlich genauso schnell reisen können wie Leute in der Stadt. Mehr Blitzer scheiterten wiederum oft am Geld und am Personal. Umso überraschender, dass auch die deutlich günstigeren Kurventafeln nur von fünf Bundesländern als adäquate Maßnahme eingeordnet werden.
Also doch lieber fällen? Der ehemalige Politiker Josef Göppel, der von 2002 bis 2017 für die CSU im Bundestag saß, setzte sich jahrelang für den Erhalt der Alleen ein. Als Vorsitzender der Parlamentsgruppe „Kulturgut Alleen“ plädierte er ebenfalls für ein Tempolimit von 80 km/h auf bestimmten Abschnitten. Lange Zeit, sagt Göppel, hätten die Straßenbauämter aber lieber zur Säge gegriffen. Inzwischen seien sie vorsichtiger geworden. „Das hängt vielleicht auch mit wirtschaftlichen Interessen zusammen“, mutmaßt Göppel. Die Hersteller von Leitplanken wollten schließlich auch Geld verdienen.
Göppels Nachfolgerin, die Grünen-Politikerin Filiz Polat, hat keine Zeit für ein persönliches Gespräch. In einer E-Mail zeichnet sie die Lage nicht ganz so rosig: „Wir erleben in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten einen schleichenden Verlust unserer Alleen“, schreibt Polat. Auch sie fordert mehr Leitplanken und Geschwindigkeitsbeschränkungen, um Unfälle zu verhindern. Immerhin: Im Bundeshaushalt habe die Parlamentsgruppe jüngst fünf Millionen Euro für die Pflege und den Erhalt der Bäume durchsetzen können – parteiübergreifend.
Erschwert wird die Einschätzung der Lage vor allem dadurch, dass der Bestand von Alleen bislang nirgendwo verzeichnet ist. Zwar erfasst die Unfallstatistik, wenn ein Auto gegen einen Baum fährt. Aber werden die hölzernen Kulturgüter deshalb wirklich rigoros gefällt? Oder ersetzen die Behörden vor allem alte und kranke Exemplare, deren Lebenszeit sich ohnehin dem Ende zuneigt? Was gleich die nächste Frage aufwirft: In welchem Zustand befinden sich die Alleen überhaupt? Stürme, Trockenheit und Streusalz setzen ihnen bekanntlich zu.
Hilfe durch bessere Assistenzsysteme?
Um solche Fragen zu beantworten, arbeitet die Hochschule für Nachhaltige Entwicklung Eberswalde (HNEE) an einem Großprojekt. Im Auftrag der Deutschen Bundesstiftung Umwelt sollen alle Alleen in Deutschland systematisch erfasst werden. „Knapp 90 Prozent der Daten haben wir schon“, sagt Jürgen Peters, der zuständige Professor. Ähnlich wie die Unfallforscher hat auch Peters festgestellt, dass die Bundesländler höchst unterschiedlich mit der Alleen-Frage umgehen. Ein genereller Trend sei aber erkennbar: Die Zahl der Bäume nimmt ab. „Wenn wir uns alte Landkarten von 1820 ansehen, dann war der Alleenbestand in Brandenburg viermal so hoch wie heute“, nennt der Forscher ein Beispiel.
Der Rückgang habe gar nicht unbedingt etwas mit der Verkehrssicherheit zu tun. „Viele Bäume sind einfach alt“, sagt Peters. Wenn morsche Bäume verschwänden, werde aber nur selten etwas nachgepflanzt – ein Alleen-Tod auf Raten. Dass so wenig nachkommt, hängt aber sehr wohl mit der Sorge vor Unfällen zusammen. Neue Bäume sollen, wenn möglich, mindestens 4,5 Meter (mit Leitplanken) beziehungsweise 7,5 Meter (ohne Leitplanken) vom Fahrbahnrand entfernt gepflanzt werden. So sehen es die Richtlinien von Bund und Ländern vor. Das Problem: Die Flächen neben den Landstraßen werden meist landwirtschaftlich genutzt. „Die Bauern wollen ihr Land aber nicht verkaufen“, sagt Peters. „Das ist ein Riesenproblem.“
Ganz hoffnungslos ist die Lage aber nicht. So werden seit einigen Jahren wieder verstärkt Jungbäume an kommunalen Straßen gesetzt, um die Landschaft aufzuhübschen. An den Bundes- und Landstraßen kamen in Mecklenburg-Vorpommern laut BUND im vergangenen Jahr sogar mehr Bäume hinzu, als gefällt wurden. Auch im Hinblick auf die Verkehrssicherheit gibt es gute Nachrichten: „Die Assistenzsysteme in den Autos werden immer besser“, sagt Alleen-Forscher Jürgen Peters. Und prognostiziert: „In 20 Jahren hat sich das Problem der Baumunfälle erledigt.“ Da wäre es doch schade, vorher alle Bäume zu fällen.