Vor 55 Jahren errang der TSV 1860 München seine erste und bislang einzige deutsche Fußball-Meisterschaft. Dann mussten die Anhänger des Kultclubs ein Auf und Ab zwischen den Höhen der Bundesliga und den Tiefen der viertklassigen Regionalliga Bayern erdulden. Aktuell hat der Verein den Aufstieg in die Zweite Liga knapp verpasst.
Am Nachmittag des 28. Mai 1966 goss es in Strömen über Giesings Höhen. Das aber konnte keinen der 44.000 Zuschauer davon abhalten, am letzten Spieltag der Bundesliga-Saison 1965/1966 den Weg ins Stadion an der Grünwalder Straße in München anzutreten. Die „Löwen“ des TSV 1860 München – so genannt wegen ihres Wappentiers – brauchten im Duell mit dem Hamburger SV nur noch einen einzigen Punkt, um die erste deutsche Meisterschaft der Clubgeschichte perfekt zu machen. In der Vorwoche war den „Sechzgern“ unter ihrem Wiener Trainer Max Merkel das Bravourstück gelungen, beim ärgsten Mitkonkurrenten Borussia Dortmund 2:0 zu gewinnen und so den Titelgewinn in der eigenen Hand zu haben.
Nachdem Rudolf Brunnenmeier, bis heute Bundesliga-Rekord-Torschütze der „Sechzger“, die Löwen schon früh gegen den HSV in Führung gebracht hatte, mussten die Fans nach dem Ausgleich durch Uwe Seeler bis zum Schlusspfiff zittern. Danach brach ein regelrechter Jubelsturm los, und die Fans geleiteten das Team in einem Autokorso zum Münchner Marienplatz. Dass es überhaupt zu einem solch spannenden Saisonfinale kommen konnte, lag an einem Durchhänger der Blauen, wie die Mannschaft wegen der Trikotfarbe zur Abgrenzung von den Roten des Stadtrivalen Bayern München getauft wurde. In der Hinrunde hatten die „Sechzger“ bärenstarke 29:5 Punkte geholt, doch in der Rückrunde schwächelte das mit 80 Treffern offensivstärkste Team der Liga einige Male – was fast noch den Dortmundern oder dem lokalen Erzrivalen FC Bayern München den Titel ermöglicht hätte.
Durchmarsch unter Trainer Werner Lorant
In der Frühphase der jungen Bundesliga gab es kein Überteam wie heute. Die Löwen waren in die Spielzeit 1965/1966 nur als einer von vielen möglichen Titel-Aspiranten eingestiegen. Die Blauen, die in den 1950er-Jahren noch keinerlei Rolle im nationalen Titelrennen gespielt hatten, profitierten von dem Glücksfall, dass sie ausgerechnet zur Gründungszeit der Bundesliga ein starkes Team zur Verfügung hatten und sich als Meister der Oberliga-Süd in der Saison 1962/1963 automatisch für die neue oberste deutsche Spielklasse qualifizieren konnten. Zur Erinnerung: Der Stadtrivale und heutige Serienmeister Bayern München war bei der Bundesliga-Gründung überhaupt noch nicht dabei.
In der ersten Bundesliga-Saison 1963/1964 erreichten die Löwen einen beachtlichen siebten Platz, was noch durch den Gewinn des DFB-Pokals 1964 getoppt wurde. Im Finale siegten die Löwen 2:0 gegen Eintracht Frankfurt und qualifizierten sich damit sogar fürs internationale Geschäft. Als deutscher Pokalsieger wirbelten die Löwen in der Folgesaison als internationaler Nobody die europäische Elite durcheinander und zogen sensationell ins Finale des Pokals der Pokalsieger ein. Begleitet von 12.000 eigenen Fans, trafen sie am 19. Mai 1965 vor knapp 100.000 Zuschauern im Londoner Wembley-Stadion auf den englischen Vertreter West Ham United rund um die Superstars Bobby Moore und Geoffrey „Geoff“ Hurst. Zwar mussten sich die „Sechzger“ mit 0:2 geschlagen geben, hatten mit der Finalteilnahme dennoch ein erstes europäisches Ausrufezeichen für den deutschen Fußball setzen können.
Ein Jahr später gelang ihnen dann – wie erwähnt – mit der nationalen Meisterschaft 1965/1966 der Höhepunkt der Vereinsgeschichte. Torwart Petar Radenkovic, der für seine Ausflüge bis in die gegnerische Spielhälfte berühmt wurde, Kapitän Peter Grosser, Mittelfeld-Stratege Otto Luttrop oder die beiden Vollblut-Stürmer Rudolf Brunnenmeier und Timo Konietzka sind bis heute Legenden. Beinahe hätte es in der Saison 1966/1967 sogar zur Titelverteidigung gereicht, doch letztlich mussten sich die Löwen mit der Vizemeisterschaft hinter Eintracht Braunschweig zufrieden geben.
Danach allerdings begann der kontinuierliche Niedergang der Blauen, der schließlich im ersten Bundesliga-Abstieg 1970 einen ersten Tiefpunkt erreichte. 1860 musste den Weg in die Regionalliga antreten, die bis zur Gründung der Zweiten Bundesliga 1974 die zweithöchste deutsche Fußball-Spielklasse bildete. Bis zum Wiederaufstieg in die Bundesliga in der Saison 1977/1978 mussten sich die Löwen lange mit der Zweitklassigkeit abfinden, wobei der von der Stadt München 1972 befohlene Umzug ins ungeliebte Olympiastadion wenig hilfreich war. Zwar stellten die Löwen dort im Sommer 1973 im Spiel gegen den FC Augsburg einen sagenhaften Zuschauerrekord für ein Zweitligaspiel mit geschätzten mehr als 90.000 Besuchern auf. Bei weniger attraktiven Gegnern pflegten die Löwen danach allerdings wieder in die notdürftig sanierte Heimstatt des Grünwalder Stadions zurückzukehren. Die Jahre zwischen 1977 und 1982 entwickelten sich zu einer sportlichen Achterbahnfahrt, dem Bundesliga-Abstieg nach nur einer Saison im Sommer 1978 folgte der Wiederaufstieg im Sommer 1979, um nach zwei Jahren wieder mit dem Gang in die Zweite Liga im Sommer 1981 zu enden. Da die Löwen in der folgenden Spielzeit erneut unbedingt die sofortige Rückkehr in die oberste Spielklasse erzwingen wollten und dafür immense finanzielle Risiken eingegangen waren, wurde ihnen vom Deutschen Fußball Bund im Sommer 1982 die Lizenz verweigert – was den Zwangsabstieg in die drittklassige Bayernliga zur Folge hatte. 1991 gelang den Blauen wieder der Sprung in die Zweite Liga, um nach nur einer Spielzeit aber gleich wieder abzusteigen.
Noch einmal bündelten die „Sechzger“ alle Kräfte, und unter dem damaligen Trainer Werner Lorant gelang den Löwen der direkte Durchmarsch von der Bayernliga, sprich Amateurliga, bis in die Bundesliga Ende der Saison 1993/1994. Dieses Husarenstück war zuvor noch keinem deutschen Club gelungen. Die Löwen waren nach 13 Jahren Abstinenz wieder in der deutschen Eliteliga angekommen. Sogleich kursierten Pläne für den Ausbau und die Modernisierung des Stadions an der Grünwalder Straße. Doch dazu sollte es nie kommen. Das letzte Bundesliga-Spiel in Giesing fand im Juni 1995 statt, danach mussten die Löwen wieder ins Olympiastadion umziehen. Dort kickten sie bis zum erneuten Abstieg aus der Bundesliga im Sommer 2004 und nach einem bemerkenswerten vierten Platz in der Saison 1999/2000.
Doch noch immer hatten die „Sechzger“ ehrgeizige Pläne. An der Seite des Stadtrivalen und Erzfeindes FC Bayern München stieg der Verein in das bei Großteilen der Fans höchst umstrittene Projekt „Allianz-Arena“ in Fröttmaning ein. Eng mit diesem gigantischen Prestigeobjekt verbunden war der Name von Karl-Heinz Wildmoser, einem der prägendsten Präsidenten der Vereinsgeschichte. Unter seiner Ägide von 1992 bis 2004 wurde Anfang 2002 fast zeitgleich mit dem ähnlichen Vorgang beim FC Bayern die Ausgliederung der Fußball-Profiabteilung in eine Kommanditgesellschaft auf Aktien beschlossen, die fortan als TSV München von 1860 GmbH & Co. KGaA fungierte. Damit versprach man sich einen wirtschaftlichen Aufschwung, der zusätzlich noch durch die neue Arena mit der Hoffnung auf sprudelnde Sponsoren- und Zuschauereinnahmen befördert werden sollte.
Nach dem Sturz Wildmosers infolge von Bestechungsvorwürfen gegen seinen Sohn im Rahmen des Stadionprojektes stellte sich allerdings bald heraus, dass die klammen Löwen die finanziellen Belastungen des Mega-Projektes nicht schultern konnten. Der Verein musste seine 50-Prozent-Beteiligung an der Arena 2006 für elf Millionen Euro an den FC Bayern München verkaufen. Doch auch die Miete, die die Löwen als Mitbenutzer des Stadions in der Folgezeit an die Bayern überweisen mussten, erwies sich als zu schwere Hypothek. Vor allem als 1860 in den Jahren zwischen 2004 und 2011 im tiefen Mittelmaß der Zweiten Liga versank und schließlich im Frühjahr 2011 kurz vor der Insolvenz stand.
Großer Mythos vom Arbeiterverein
Damals schlug die Stunde des jordanischen Investors Hasan Ismaik, einem Immobilien- und Öl-Tycoon, der laut einer „Forbes“-Schätzung über ein Privatvermögen von 1,4 Milliarden Dollar verfügen soll und der seitdem von Abu Dhabi aus die Geschicke rund um Giesing durch Mittelsmänner lenkt. Durch Zahlung von 18,4 Millionen Euro erwarb er 60 Prozent der Anteile an der KGaA, gleichzeitig aber nur 49 Prozent der Stimmrechte, da die sogenannte 50+1-Regel der Deutschen Fußball Liga (DFL) mehr untersagt. Trotz ständiger Wechsel des Führungspersonals gelang der von Ismaik ständig versprochene Bundesliga-Aufstieg bis heute nicht. Stattdessen kam es immer mehr zu Streitigkeiten zwischen dem Verein und seinem Geldgeber.
Als im Sommer 2017 der Abstieg aus der Zweiten Liga feststand, weigerte sich Ismaik, einen erforderlichen Geldbetrag bereitzustellen, der Voraussetzung für eine Drittliga-Lizenz gewesen wäre. Der ruhmreiche TSV 1860 München wurde deshalb in die viertklassige Regionaliga Bayern zwangsversetzt – und war auf dem Tiefpunkt seiner Vereinshistorie angekommen. Immerhin hatte der Zwangsabstieg den Ausstieg aus dem Allianz-Arena-Mietvertrag und die Rückkehr ins Grünwalder Stadion ermöglicht.
Inzwischen macht der Verein vor allem sportlich wieder von sich reden. In den Aufstiegsspielen gegen den 1. FC Saarbrücken gelang 2018 wieder der Sprung aus der Regionalliga in die Dritte Liga. Am letzten Spieltag der aktuellen Spielzeit 2020/2021 trafen die Löwen in einem regelrechten Endspiel um Platz drei am vergangenen Wochenende auf den zwei Punkte besseren FC Ingolstadt. Am Ende allerdings verpassten die Münchner die Chance auf die Relegationsspiele und den möglichen Aufstieg in die Zweite Liga. Die „Sechzger“ unterlagen deutlich mit 1:3 in Ingolstadt und spielen auch nächste Saison Dritte Liga.
Übrigens: Entgegen des von seinen Anhängern gerne gepflegten Mythos handelt es sich bei 1860 keineswegs um einen Verein mit Wurzeln im Arbeitermilieu. Vielmehr war der Club mit seinem im Arbeiterviertel Giesing ansässigen Stadion in seiner Geschichte fest im bürgerlichen Milieu verankert und hatte in der Hitler-Zeit die Nähe zu den Nazis gesucht, was ihm auch den ersten deutschen Pokalsieg 1942 einbringen sollte. Der Mythos als Arbeiterverein wurde irgendwann in den 1960er-Jahren erfunden, als man sich unter dem Schlagwort „Münchens große Liebe“ von dem aufstrebenden FC Bayern, der als reicher „Schwabingerclub“ abgestempelt wurde, abheben wollte.