Friedi Kühne läuft über ein 2,5 Zentimeter schmales Band in schwindelerregenden Höhen, in der höchsten Disziplin auch ohne Sicherung. Im Interview spricht der 32-jährige Profi-Slackliner, der schon mehrere Weltrekorde geschafft hat, über den besonderen Kick, das Suchtpotenzial und die Angst.
Herr Kühne, Jungs wollen Pilot, Polizist oder Youtuber werden. Hatten Sie auch einen Traumberuf?
Als Kind hatte ich keinen speziellen Berufswunsch. Später wollte ich erst Journalist, mit 17 Jahren dann Diplomat oder Botschafter werden. Durch die Welt zu reisen, andere Kulturen kennenzulernen, hat mich schon sehr interessiert. Aber ich hatte nicht nur Einsen auf dem Zeugnis. Das Naturerleben hat aber schon früh eine große Rolle gespielt. Zwar mussten mich meine Eltern ein wenig zwingen, im Sommer mit ihnen zu wandern oder auf die Berge zu steigen und im Winter Ski zu fahren, aber es hat Spaß gemacht. Das brauchte seine Zeit, wie später mit dem Slacklinen. Ich habe damit wie andere auf dem Rasen angefangen, das war ein Zittern und Wackeln, ich fand es erst doof und frustrierend. Aber nachdem ich die ersten Schritte auf dem Seil geschafft hatte, wollte ich mehr. Ganz rüber und wieder zurück. Ich spürte ein Gefühl von Kontrolle, und es wurde immer besser: kontrolliert durch die Luft zu schweben. Da hatte mich die Sucht gepackt.
Vom Freizeitspaß zum Profisportler – war Ihr Weg vorgezeichnet?
Ich habe immer schon Sportarten geliebt, wo man sich wild durch die Luft bewegt. Turnen, Trampolinspringen, alles, was mit Körperspannung und Koordination zusammenhing. Das ging auch beim Slacklinen, es war noch besser –
spielerischer, keine Regeln. Als ich in München dann fürs Lehramt Englisch und Mathematik studierte, habe ich andere Slackliner kennengelernt und vieles ausprobiert. Beim Tricklinen zum Beispiel war es ähnlich wie auf dem Trampolin: mehrere Sprünge hintereinander, Salti, alle möglichen Kombinationen. Meine Eltern dachten zunächst, diese merkwürdige Leidenschaft für das Seil legt sich schon wieder. Aber als ich dann bei „Wetten, dass..?" aufgetreten war, an Wettbewerben teilnahm und es langsam professioneller wurde, haben sie meine Pläne unterstützt: „Probier was Besonderes, sei mutig!" Richtig beruhigt waren sie natürlich, weil ich weiter studiert habe und meinen Abschluss gemacht habe. Während des Studiums war ich als Assistant Teacher in den USA und habe mich dort nach und nach vom Tricklinen gelöst. Zwar bin ich schon Jahre davor in Deutschland Highline gelaufen, aber in den USA war das doch viel spektakulärer und herausfordernder. Darauf habe ich mich fortan konzentriert, denn nun wusste ich: Alles bisher war ja ganz nett, aber Highlinen, das ist das Ultimative. Natürlich hat man in der schwindelnden Höhe anfangs Angst, aber man überwindet sie Schritt für Schritt. Der Adrenalinkick war unglaublich. Und es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man umgeben von unglaublicher Natur 500 Meter über einen reißenden Wasserfall balanciert oder daheim über die Wolfsschlucht. Jetzt war klar: Highlinen ist meine Königsdisziplin.
Sucht hat ja was Zwanghaftes. Für Sie schien es eher befreiend zu sein.
(lacht) Darüber könnte man ewig reden. Wenn Du auf einer hohen Slackline stehst, dann stehst Du auf einem nur 2,5 Zentimeter schmalen Band. Du hast nur Luft um Dich herum. Es ist einfach nichts um Dich herum, Du bist dem vollkommen ausgesetzt. Es ist mehr als dieser unglaubliche Kick, es ist das intensive Gefühl, mit sich vollkommen allein zu sein. Eine Wahrnehmung des echten Augenblicks, in dem Du die Vergangenheit und die Zukunft vollkommen vergisst. Das hat auch etwas sehr Meditatives, weil sich alles richtig anfühlt. Das habe ich in anderen Lebenssituationen kaum oder gar nicht gekannt. Und ich wollte das immer wieder erleben. Gleichzeitig entwickelte sich der Wunsch, weiter und höher zu gehen. Es wurde geradezu zu einer Sucht. Alles konzentriert sich in solchen Momenten auf die Einheit von Mut, Körperbeherrschung, Selbstkontrolle und einen klaren Kopf.
Waren Sie besonders stolz darauf, sich etwas beweisen zu können?
Ja, natürlich, aber es ist mehr als das. Es ist nicht nur das Voranschreiten auf der Highline, sondern es ist auch ein Hinweis darauf, wie man sein Leben meistert. Körperliche und mentale Stärke entwickeln, nicht aufgeben, geduldig und achtsam voranschreiten, das kann man gut auf andere Lebensbereiche übertragen. Als Kind und Jugendlicher war ich total unsicher, und ich merke jetzt, wie das Slacklinen mich positiv verändert hat. Ich bin ausgeglichener und selbstbewusster geworden.
In schwindelerregender Höhe zu balancieren, da packt einen doch die Angst. Oder etwa nicht?
Angst ist etwas ganz natürliches. Aber um sie zu überwinden, brauche ich keinen Talisman und ich bete auch nicht. Denn je besser ich werde, meinen Körper, meine Reflexe, meinen Gleichgewichtssinn trainiere und beherrsche, desto weniger Angst spüre ich. Je stärker ich physisch und mental werde, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit zu versagen. Wenn ich fit bin, habe ich keine Angst. Man muss in jeder Beziehung fit sein, im Kopf und körperlich. Bin ich abgelenkt oder hatte ich vielleicht Streit mit meiner Freundin, wenn ich in irgendeiner Weise abgelenkt bin, dann versuche ich ganz sicher nicht, am nächsten Tag einen Free-Solo-Weltrekord aufzustellen.
Wieviel Trainingsschweiß muss für solche Leistung fließen?
Es gibt kaum einen Tag ohne Sport. Bergsteigen, Fahrradfahren, ich bin immer in Bewegung. Der Sommer ist Hochsaison für Slackliner, und das Training hängt von den Projekten und Aufgaben ab. Ich praktiziere meistens zwei Stunden Yoga an vier bis fünf Tagen in der Woche, Krafttraining gehört dazu und Laufen auf der Longline bei mir daheim. Da kommen über die Woche verteilt schon einige Kilometer auf dem Seil zusammen.
Es macht den Eindruck, das sei ein einsamer Sport – ganz allein auf dem Seil.
Im Gegenteil, denn im Wesen ist Slackline ein Teamsport. Zum einen macht es mit anderen zusammen mehr Spaß, man feuert sich gegenseitig an und entwickelt einen gewissen Ehrgeiz. Aber wenn es ans Highlinen geht, ist man erst recht auf die anderen angewiesen. Je größer die Herausforderung, desto komplizierter wird der ganze Aufbau. Und dazu braucht es wirklich gute Leute, die alle erfahrene Kletterer und Slackliner sind. Dazu gehört gegenseitiges Vertrauen, denn am Ende hängt mein Leben an einem Knoten, den andere geschnürt haben. Es sind die Kumpels, das Team, das am anderen Ende wartet, dich anfeuert und die mit dir die Emotionen teilen.
Sie haben 2016 Ihren ersten Free-Solo-Weltrekord geholt. Ohne Sicherungsseil. Viele schütteln darüber den Kopf. Was treibt Sie an?
Wenn die Highline die Königsdisziplin ist, dann wäre Free Solo die Götterdisziplin. Free Solo bedeutet: Ich bin nicht durch ein Seil oder andersweitig gesichert. Nichts und niemand kontrolliert mein Schicksal, außer ich selbst. Nur meine eigenen Fähigkeiten entscheiden darüber, ob ich am Ziel lebend ankomme oder nicht. Dabei geht es nicht um eine plötzliche Windböe. Die kann man stehen oder sich am Seil fangen. Free Solo heißt, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Das gilt ab der Vorbereitung, das gilt für das Wetter und es gilt für meine gesamte Verfassung. Ich laufe die Line mehrere Male vorher mit einer Sicherung, und erst, wenn der Moment perfekt ist und meine Fähigkeiten und alle Sinne zu 100 Prozent entsprechen, lege ich die Sicherung ab. Faktisch ist es natürlich möglich, beim Fee Solo abzustürzen und zu sterben. Das würde ich nie abstreiten. Aber worum geht es mir? Wenn jemand mit zehn Sauerstoffflaschen und vielen Trägern den Mount Everest besteigen will – wo ist denn da die Leistung? Der nimmt ja keine Verantwortung in die Hand. Wenn jemand eine Highline mit Sicherung läuft – Respekt. Dafür muss man sich überwinden und hart trainieren. Aber nichtsdestotrotz sagt man: Es darf ja schiefgehen, ich bin gesichert. Man gesteht sich also die Option des Versagens noch zu. Free Solo sagt: Diese Option brauche ich nicht mehr. Dann fühle ich mich hundertprozentig frei und fühle mich, als könnte ich Berge versetzen.
Hochmut kommt vor dem Fall. In Ihrem Sport wäre das tödlich.
Man kann diesen Extremsport nicht hochmütig betreiben. Das wäre so, als wenn ich die Gefahr komplett leugnen würde, wenn ich den Respekt vor dem Free Solo verlöre und die Vorbereitung und Kontrolle schleifen ließe, wenn ich also übermütig würde. Wenn ich die Kontrolle über mein Ego verliere und nicht über die Konsequenzen nachdenke. Das wäre Hochmut. Das ist aber überhaupt nicht meine Herangehensweise. Es kommt durchaus auch vor, dass ich sage: Ich fühle mich heute nicht bereit, ich lasse es lieber. Gefahr ist schwer messbar, was ist gefährlicher? Wenn ich mit meinen Fähigkeiten, die ich mir in zehn Jahren antrainiert habe, nie gefallen bin – wer sagt denn, dass ich ein höheres Risiko eingehe als jemand, der mit 150 km/h über die Autobahn fährt? Wenn man nach der Statistik geht, dann bin ich viel sicherer unterwegs als diese Autofahrer. Beim Free Solo ist noch nie jemand gestorben.
Halten Sie sich für unverwundbar?
Nein, natürlich nicht. Das wäre hochmütig. Aber es liegt an mir selbst, mich so vorzubereiten, alles so unter Kontrolle zu haben, dass es mir hoffentlich nicht passiert.
Vermutlich wollen Sie noch höher hinaus?
In meinem Beruf als Lehrer bleibt noch genug Zeit, um jedes Jahr neue Länder zu bereisen und krasse Weltrekordprojekte zu machen. Ich will diese Leidenschaft weiter ausleben und die Grenze noch verschieben, ich möchte immer neue Sachen ausprobieren. Früher wollte ich immer die längste Slackline der Welt laufen, dann hab ich es irgendwann gemacht. Jetzt habe ich andere Träume, es wird vielfältiger und mehrdimensionaler. Ich arbeite an einer neuen Königsdisziplin. Es geht um das Baselining, was bislang weltweit von einer Handvoll Leute gewagt wird. Man läuft über eine sehr hohe Highline ohne Sicherung, aber mit Fallschirm. Wenn man runterfällt, fliegt man davon.
Spätestens dann wird es Zeit, ein Buch zu schreiben.
Ja, ich hätte Lust ein Buch zu schreiben. Wenn ich älter bin und auf einem Sofa vor dem Kamin sitze. Schreiben über meine Abenteuer und die Gefühle dabei. Und ganz sicher werde ich aufpassen. Ich habe keine Lust, vorzeitig das Zeitliche zu segnen.