Dass eine Europameisterschaft im Hockey vor Olympia stattfindet, ist höchst ungewöhnlich. Die deutschen Mannschaften wollen den Balanceakt zwischen einer guten Platzierung und dem Einspielen für Tokio hinbekommen.
Auch im Leistungssport spielen die Themen Nachhaltigkeit und Umweltschutz eine immer größere Rolle. In der Branche ist längst angekommen, dass ein „höher, schneller, weiter" auf Kosten der natürlichen Ressourcen und des Klimas gestoppt werden muss. Im deutschen Hockeysport hat man sich darüber ebenfalls Gedanken gemacht und erste aktive Schritte unternommen. Die deutschen Hockey-Nationalspielerinnen haben mit der Grootbos Foundation das Projekt „Hockey-Wald" realisiert. Dabei werden in Südafrika Bäume gepflanzt, um den CO2-Fußabdruck, der unter anderem durch die Wettkampfreisen verursacht wird, zu verringern. „Wir sind uns unseres CO2-Ausstoßes und unserer Verantwortung für unseren Planeten bewusst und möchten daher jetzt handeln", sagte Kapitänin Janne Müller-Wieland. Teamkollegin Anne Schröder lud auch andere Sportler und Sportfans zum Mitmachen ein: „Wer immer schon mal an seinem ökologischen Fußabdruck arbeiten wollte, kann sich uns gern anschließen und seinen eigenen Baum oder seine eigenen Bäume im Hockey-Wald pflanzen."
EM vom 4. bis 13. Juni in Amsterdam
Für die Europameisterschaft muss gar nicht so viel CO2 kompensiert werden, die Anreise zur Gastgeberstadt Amsterdam ist kurz. Vom 4. bis 13. Juni werden in der niederländischen Hauptstadt sowohl bei den Frauen als auch bei den Männern die neuen Europameister ermittelt. Ursprünglich hätte das Turnier erst Ende August stattfinden sollen, doch aufgrund der Verschiebung der Olympischen Spiele in Tokio (24. Juli bis 6. August) wurden die kontinentalen Titelkämpfe nach vorne verlegt. Sie stehen bereits ganz im Zeichen von Olympia, die Kader für die beiden Großevents werden nahezu identisch sein. Umso wichtiger ist den deutschen Mannschaften eine gelungene Generalprobe. „Es ist das erste Mal, dass wir so kurz vor Olympischen Spielen eine EM spielen, das ändert eine ganze Menge", sagte Herren-Bundestrainer Kais Al Saadi. „Es geht vor allem ums Einspielen für Tokio und die Teamfindung. Aber natürlich geht es auch um vordere Plätze." Das absolute Minimalziel sei die direkte Qualifikation für die kommende Weltmeisterschaft 2023 in Indien. Dafür ist ein fünfter Platz in Amsterdam erforderlich. Und eigentlich ist es an der Zeit, dass die erfolgsverwöhnten Hockeyspieler ihre EM-Bilanz aufpolieren. In der Geschichte konnten sie zwar bereits acht Goldmedaillen sammeln, zuletzt standen sie aber 2015 auf einem EM-Podest. „Sagen wir es mal so: Wenn wir das Podest da verfehlen und in Tokio erreichen, dann ist es für mich okay", meinte Al Saadi schmunzelnd. „Andersrum wäre es nicht so schön."
Um in den Vorrundengruppen mit je vier Teams das Halbfinale zu erreichen, müssen sowohl die Männer als auch die Frauen einen der ersten beiden Plätze belegen. Die Damen von Bundestrainer Xavier Reckinger duellieren sich dafür mit England, Belgien und Italien. Für die Nummer zwei in Europa ist England der gefährlichste Gegner. Die Männer bekommen es mit Wales, den Niederlanden und Frankreich zu tun. Auftaktgegner Wales ist der krasse Außenseiter, gegen den ein Sieg Pflicht ist. Doch Al Saadi warnte vor der Spielweise der körperlich sehr robusten Mannschaft, die der Bundestrainer mit „hart, aber herzlich" umschrieb: „Technisch und spielerisch sind sie nicht die variabelsten und attraktivsten." Bei der Vorbereitung tue er sich dennoch schwer, „denn Wales ist für uns ein bisschen eine Blackbox, wir haben relativ wenig Informationen über sie". Das genaue Gegenteil trifft auf den zweiten Gruppengegner Niederlande zu. Man kennt sich, man schätzt sich, man will gegen den Erzrivalen unbedingt einen Prestigesieg einfahren. Doch das wird nicht einfach, der Weltranglisten-Dritte Niederlande geht als leichter Favorit ins Duell gegen den Weltranglisten-Sechsten Deutschland. „Zu den Holländern muss ich nicht viel sagen", so Al Saadi, „sie sind seit Jahrzehnten mit das Maß der Dinge." Das Schlüsselspiel kommt vermutlich zum Schluss. Auch gegen Frankreich wird die DHB-Auswahl wohl einen Sieg einfahren müssen, um im Geschäft zu bleiben. Doch einfach wird das nicht. „Das ist die aufstrebende Hockeynation in Europa, sie hat sich vom absoluten Nobody zum Team in Lauerstellung gemausert", erklärte Al Saadi. Ein Beleg dafür: In der Olympia-Qualifikation scheiterte Frankreich nur knapp an Spanien, das seit Jahren zur erweiterten Weltspitze zählt. Die Franzosen sind physisch stark und gleichzeitig ballsicher. Trainiert wird der Weltranglisten-Zwölfte von Jeroen Delmeé. Unter der Leitung des langjährigen niederländischen Rekord-Nationalspielers ist Frankreich auf dem Sprung zur europäischen Spitze.
Interner Konkurrenzkampf war enorm hart
Anlass zur Hoffnung gab jedoch der erste Testspielsieg gegen Frankreich (5:2) kurz vor der Kadernominierung, auch wenn der Gegner personell geschwächt angetreten war. Al Saadi attestierte seinem Team „harte Arbeit, „viel Einsatz und Engagement", auch wenn „gewisse Details in der Abstimmung noch nicht reibungslos ineinandergegriffen" hätten. „Aber das", ergänzte der Bundestrainer, sei „in dieser Phase normal" gewesen. Er lobte, die Mannschaft sei „hervorragend" mit der „hohen Drucksituation" umgegangen, denn der interne Konkurrenzkampf um die EM- und Olympia-Tickets im Vorbereitungscamp auf der Anlage des UHC Hamburg war enorm hart. „Der Umgang war trotzdem sehr respektvoll untereinander und verhältnismäßig locker", berichtete Al Saadi.
Die Leistungsträger Ferdinand Weinke, Jan Schiffer und Moritz Rothländer hätten ihren Platz im EM- und Olympia-Kader wohl sicher gehabt, aber sie sind aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr dabei. „Ich bedauere das sehr", sagte Al Saadi. „Sie hätten die Gruppe menschlich wie sportlich bereichert." Aber der Bundestrainer ist das Improvisieren inzwischen gewöhnt. Kurz nach seinem Amtsantritt Ende 2019 wirbelte Corona alles durcheinander, über die Olympia-Verschiebung war er gar nicht mal böse. Es habe ihm „mehr Zeit gegeben", um die Mannschaft „in ihrer Tiefe kennenzulernen und meine Spielphilosophie und meinen Führungsstil zu etablieren". Auf die Erfahrung einer Pandemie hätte aber auch der Hamburger lieber verzichtet: „Ich habe vom Schicksal aufs Brot geschmiert bekommen, was jeder Trainer hasst: dass man eben nicht alles steuern kann."
Was man im Hockeysport aber sehr gut steuern kann und auch muss, sind Strafecken. Der Spezialist dafür im deutschen Kader ist Lukas Windfeder, in den ersten beiden EM-Testspielen war er insgesamt dreimal nach kurzen Ecken erfolgreich. Mit dieser Spezialität hatte er schon den HTC Uhlenhorst ins Final Four um die Deutsche Meisterschaft geschossen. Im zweiten Viertelfinale gegen den Hamburger Polo Club (6:2) verwandelte der Innenverteidiger gleich fünf Ecken. „High Five", titelte daraufhin die „WAZ" und sah Windfeder „auf den Spuren Robert Lewandowskis". Ein Fünferpack sei ihm „zum ersten Mal gelungen", sagte Windfeder hinterher, „aber die Abläufe haben super gepasst und dann kam das Selbstvertrauen natürlich auch zurück". Im März war Windfeder wegen eines positiven Corona-Tests für zwei Wochen außer Gefecht. Dass Windfeder auch bei der EM an sich und seine Stärke glaubt, ist für die DHB-Auswahl elementar. Strafecken bieten im Hockey die größte Chance auf einen Torerfolg und haben daher oft spielentscheidenden Charakter. Im Schnitt fallen fast 50 Prozent aller Tore durch die Standardsituation. Entsprechend intensiv wird sie einstudiert und an den Feinheiten gearbeitet. Experten wie Windfeder trainieren 500 bis 800 Ecken pro Woche, um diese auch wirklich weltklasse ausführen zu können. Dabei ist ein räumliches Sehen unabdingbar, denn der Schütze muss seine Augen für die Annahme auf den Ball und gleichzeitig auch auf die Abwehr und den Torhüter richten, um dort Lücken zu erkennen. Auch im EM-Vorbereitungscamp in Hamburg wurden Strafecken bis zur Erschöpfung trainiert und in den Testspielen gegen Frankreich und Kanada angewendet. Auch deshalb seien die Partien „unglaublich wichtig" gewesen, um sich Richtung EM und Olympia weiterzuentwickeln, betonte Al Saadi. Selbstverständlich sind Testspiele in Corona-Zeiten nämlich nicht. „Ich bin heilfroh, noch solche motivierten Testgegner gefunden zu haben", sagte Al Saadi, der zuvor Absagen der Australier, Neuseeländer und der Inder in der Pro League in Hamburg kassiert hatte.
Fast 50 Prozent der Tore durch Strafecken
Noch schwierigere Bedingungen hatten die deutschen Hockey-Damen, ihnen blieb nach den Absagen von Australien, Neuseeland und Japan, die allesamt auf Reisen nach Europa verzichteten, nichts anderes übrig, als gegen den eigenen Perspektivkader die EM-Form zu testen. Neben dem Hoffnungs-Team für die übernächsten Sommerspiele 2024 in Paris standen auch zwei Vergleiche mit der männlichen deutschen U16-Nationalmannschaft auf dem Plan. Gegen die Junioren wollte Frauen-Bundestrainer Reckinger „unsere defensive Ausrichtung auf die Probe stellen", im Duell gegen den eigenen Perspektivkader ging es eher „um die offensiven Strukturen". Die Entwicklung des Teams, zu dem zuletzt noch einige jüngere Spielerinnen gestoßen sind, habe ihm „sehr gefallen", so Reckinger. „Aber nun kommen die großen Turniere." Und da zählt nur der Leistungsgedanke.
Auch wenn Frauen und Männer ihre EM-Spiele am selben Ort absolvieren, fällt die gegenseitige Unterstützung auf den Rängen aus. Laut Wettkampfplan spielen die Frauen meist an Ruhetagen der Männer und umgekehrt, „dann fahren wir aber nicht raus ins Stadion", erklärte Al Saadi. „Aber die Mannschaften verstehen sich gut, sie unterstützen sich sehr.