Die 45. Tage der deutschsprachigen Literatur mit der Verleihung des Ingeborg-Bachmann-Preises finden vom 16. bis 20. Juni statt. Die Literaturkritikerin Dr. Insa Wilke übernimmt erstmals den Juryvorsitz.
Frau Dr. Wilke, der Literaturwettbewerb, der Ingeborg-Bachmann-Preis, fand letztes Jahr digital statt. Aus meiner Sicht meisterte der ORF die Herausforderung bravurös. Wie läuft es heuer ab?
Ich hoffe, wir bekommen es gemeinsam wieder so gut hin. Es wird etwas einfacher sein für die wirklich tolle Technik-Abteilung, weil immerhin die Jury vor Ort sein wird. Die Lesungen werden aber wieder aufgezeichnet, und leider ist auch noch kein Publikum zugelassen. Das fehlt uns allen besonders. Es ist ja ein ganz wichtiger Resonanzraum für das Jury-Gespräch. Aber 2022 wird man hoffentlich das kollektive Blätterumschlagen, Lachen und Grummeln wieder hören.
Welche Aufgabe haben Sie als Juryvorsitzende?
Ich spreche für die Jury in offiziellen Angelegenheiten. Das heißt, meine Aufgabe ist es, die Haltung der Jury nach außen zu spiegeln.
Als Sie mit zwei Kollegen ein „Lyrikgespräch zu Joachim Sartorius und Ben Lerner" im Deutschlandfunk gehalten haben, habe ich nichts verstanden. Mein Bildungsniveau reicht offenbar nicht so weit. Den Bachmann-Preis erlebe ich nicht als abgehoben. Spätestens, wenn Klaus Kastberger zu Wort kommt, erdet sich der Diskurs. Wie wichtig sind die unterschiedlichen Charaktere der Juroren?
Oh, die Gedichte von Joachim Sartorius sollten Sie aber lesen. Ich bin fast sicher, dass Sie viele von ihnen mögen würden. Ich nehme an, Sie meinen vor allem den Teil des Gesprächs, der sich um Ben Lerner gedreht hat. Ein US-amerikanischer Avantgardist. Harter Tobak. Ich kann Ihnen sagen: Mein Kopf hat in der Vorbereitung sehr geraucht, geflucht hab ich manchmal auch. Also, wenn ich mit Bereichen konfrontiert bin, in denen ich mich nicht auskenne, die mir neu sind oder wenn ich Fachleuten zuhöre, versuche ich als allererstes, mir nicht abzuverlangen, sofort alles verstehen zu müssen. Ich finde es manchmal auch einfach interessant, Menschen zuzuhören, die sich lange mit einem bestimmten Wissensbereich beschäftigt haben und denen man anhört, dass sie sich auskennen und versuchen, sich ernsthaft mit ihrem Gegenstand auseinanderzusetzen. Mein grundsätzliches Interesse vorausgesetzt, nehme ich dann meistens irgendetwas mit, was meinen Horizont dann eben doch erweitert. In dem Sinne: Ah, das gibt es auch in der Welt. Es ist in meinen Augen kein guter Anspruch, dass alle immer alles sofort verstehen müssen. Ich finde ganz wichtig, dass es in der Kulturberichterstattung auch um so spezielle Themen wie die Lichtenbergfiguren von Ben Lerner gehen darf, und die Zielgruppe ist dann eben auch etwas kleiner. Und ich würde mir wirklich beim Publikum die Haltung wünschen: Ah, das gibt es auch. Interessant. Davon abgesehen: In Klagenfurt haben wir es mit überschaubaren Texten und nicht mit ganzen Werken zu tun. Diese Texte können alle gemeinsam hören und sich also ein Bild machen und auf dieser Basis dann dem Jury-Gespräch folgen. Ganz andere Voraussetzungen also. Und Sie haben recht: Die unterschiedlichen Charaktere, Sprechweisen und das unterschiedliche Literaturverständnis der Jury-Mitglieder ist extrem wichtig.
Helga Schubert, die Bachmannpreisgewinnerin 2020, die Sie eingeladen hatten, lässt sich dem autobiografischen Schreiben oder autofiktionalen Schreiben zuordnen. Weshalb erlebt dieses Genre eine neue Blüte?
Darauf gibt es vermutlich viele Antworten. Es ist ja immer alles gleichzeitig da an Formen und Themen, aber mal rückt das eine mehr ins Scheinwerferlicht, mal das andere, und das hat sicher mit der gesellschaftlichen Situation zu tun. Könnte es sein, dass im Moment ein Bedürfnis da ist, Grund unter die Füße zu bekommen, und dass man den Eindruck hat, wenn jemand was von sich erzählt, kann man sich darauf verlassen, dass es stimmt und kann es auch leichter überprüfen und leichter beurteilen, was man selbst davon übernimmt und annimmt? Vielleicht ist Autofiktion beziehungsweise autobiografisch gefärbtes Erzählen eine Reaktion auf „alternative Fakten". Dabei sind diese Texte ja auch gebaut und erzielen eine Wirkung, weil sie auf eine ganz bestimmte Art geschrieben sind. Mich interessiert dann immer: Was macht der Text, und wie wirkt das auf mich?
Die Schönheit liegt im Auge des Betrachters. Der Aphorismus weist auf die Unterschiedlichkeit und Subjektivität von Wahrnehmung hin. Gilt dies nicht auch für einen guten Text?
Würde ich auch sagen. Aber ein Text setzt der Subjektivität auch Grenzen, die lassen sich nicht beliebig dehnen. Ich mag beim Lesen aber gerade die Frage: Welche Erfahrungen und welche Perspektiven lassen bestimmte Seiten des Textes stärker hervortreten? Und dann ist es spannend, sich mit unterschiedlichen Blickwinkeln auf einen Text auseinanderzusetzen. Das passiert ja in Klagenfurt. Allerdings geht es dabei immer auch um Kriterien. Das merkt das Publikum ja, dass wir die permanent mitdiskutieren.
Marcel Reich-Ranicki lobte den Erstling von Ulla Hahn und machte den Gedichtband zum Bestseller. Wie schätzen Sie ihre Macht als Literaturkritikerin ein?
Als begrenzt. Ab und zu kann ich etwas für einen Text tun. Das sind aber meistens Bücher, die eher wenig Aufmerksamkeit bekommen. Ich hab mal eine Rezension über den ersten ins Deutsche übersetzten Band der belarussischen Lyrikerin Valzhyna Mort geschrieben. Da höre ich dann, dass das eine relativ enorme Auswirkung hatte, statt 200 wurden 2.000 Exemplare verkauft. Aber ich glaube, die größte Macht im Literaturbetrieb haben diejenigen, die Bücher kaufen. Trotzdem: Wichtig ist die Vielstimmigkeit in der Literaturkritik. Darum reagiere ich so allergisch, wenn öffentlich-rechtliche Sender sagen: Eine Rezension reicht doch, warum sollen wir denn vier verschiedene zu einem Buch senden? Das ist eine sehr schlechte Idee aus den Gründen, die Sie ja andeuten: Wenn viele Menschen ein Buch lesen, vermehrt es sich plötzlich, und man hat vielleicht nicht zehn, aber zwei oder drei verschiedene Bücher, die in dem einen steckten.
Die „Neue Zürcher Zeitung" hat Sie als „gute Fee der Literaturkritik" bezeichnet. Was in einer Schweizer Zeitung steht, das stimmt. Was möchten Sie als gute Fee für den Ingeborg-Bachmann-Preis 2021 bewirken?
Dass Sie und andere sagen: Was waren das für tolle Texte in diesem Jahr! Und: Wie viel Spaß macht es, sich den Kopf über Literatur zu zerbrechen. Einer Fee würde ich übrigens auch gern begegnen: Dann würde ich sie bitten, uns nächstes Jahr wieder alle am Wörthersee zusammenkommen zu lassen.