Wer es machen soll, ist geklärt. Was aber noch nicht. Bündnis 90/Die Grünen und die Union haben ihre Personalfragen geklärt. Jetzt ist die Programmatik dran.
Schon bei der Terminierung der Kür des Spitzenpersonals ist es den Grünen im April gelungen, die Union höchst unsanft zu düpieren. Während Söder und Laschet sich noch kabbelten, präsentierten die Grünen in perfekter Inszenierung ihre Kanzlerkandidatin und setzten damit die Union unter zusätzlichen Zeitdruck. Nun sieht es aus wie ein Déjà-vu.
Bereits Mitte Juni wollen die Grünen ihr Wahlprogramm zur Bundestagswahl verabschieden. Die CDU ist erst drei Wochen später dran. Damit könnten die Grünen in ihrem Wahlprogramm bereits inhaltliche Pflöcke einschlagen, auf die dann die Union nur noch reagieren kann, wenn sie es sich nicht bereits im Vorfeld des Wahlkampfes mit den Grünen inhaltlich verderben möchte. Denn im Schnitt der Umfragen der letzten Monate ist eine Regierungskoalition aus CDU/CSU und Grünen (die Reihenfolge der Aufzählung ist dem Alphabet geschuldet) die mit Abstand wahrscheinlichste Variante. Möglicherweise wird sogar eine dritte Kraft gebraucht.
Die Grünen marschieren jedenfalls jetzt auch programmatisch mit ihrer Kanzlerkandidatin Baerbock voran. Der Vorentwurf zum Wahlprogramm mit dem Titel „Deutschland. Alles ist drin“ umfasst bereits 130 Einzelpunkte auf 136 Seiten und schließt mit den Worten: „Regieren auf Augenhöhe mit der Zukunft“. Die Debatte um diesen Entwurf begann schon am Tag, als der Titel bekannt wurde und erinnert an die Grünen von vor 20 Jahren. Die noch verbliebenen Linken bei den Bündnis-Grünen um Canan Bayram aus Berlin störten sich im Titel schon an dem Wort „Deutschland“. Dies würde Allmachtsfantasien suggerieren und sei irgendwie imperialistisch. Was ein bißchen nach Antifa-Klamauk klingt, war tatsächlich ernst gemeint. Einige sind noch nicht in der Kanzlerinnenpartei angekommen. Wie es nun aussieht, wird die Parteiführung das Wort „Deutschland“ im Wahlprogramm wohl aber retten können. Doch gegen den Gesamtentwurf wurden rekordverdächtige 3.700 weitere Änderungsvorschläge von den Parteitagsdelegierten eingereicht.
Streit um „Deutschland“
Das geht schon los bei Punkt 1: „Wir schaffen klimagerechten Wohlstand“. Es geht da zum Beispiel um die CO2-Abgabe pro Tonne Kohlendioxyd für Wärme und Verkehr, die ab 2023 erhoben werden soll. In puncto Verkehr und CO2-Emissionen pocht Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock darauf, nicht mehr als maximal 60 Euro zu veranschlagen. Doch die grüne Basis fordert beharrlich, anstellte von 60 sollten 120 Euro pro Tonne ausgestoßenem CO2 erhoben werden. Baerbock hält dagegen, sie komme selbst vom Dorf und wisse, wie wichtig es ist, dass man sich auch individuelle Mobilität leisten könne, denn ums Pendeln komme man dort nun mal nicht umhin. Soweit, so berechtigt, kontern ihre Parteifreunde. Doch dieses Argument würde ja schon den nächsten Punkt im zukünftigen grünen Wahlprogramm außer Acht lassen, dass nämlich der Personennahverkehr in den ländlichen Räumen massiv ausgebaut werden soll, und dann bedarf es dort keines eigenen Autos mehr. Doch die Kanzlerkandidatin hat mit den maximal 60 Euro pro Tonne CO2-Emissionen nicht nur das Wohl des ländlichen Individualverkehrs im Auge, sondern auch den realistischen Umstand von möglichen Koalitionsverhandlungen, die ab spätestens Mitte Oktober angesagt sein werden.
Weder der SPD und schon gar nicht der Union braucht Baerbock mit 120 Euro pro Tonne CO2 bei Verkehr und Wärme zu kommen, und der Industrie nicht mit den zwei Jahren, in denen das umgesetzt werden soll. Da sind die Koalitionsverhandlungen bereits beendet, bevor sie überhaupt begonnen haben. Hinzukommt, dass man sich in der Grünen Spitze um Bundesgeschäftsführer Michael Kellner Sorgen macht, dass mit solchen Maximalforderungen die Breitenwirkung der Grünen geschmälert werden könnte. Diese hatten Mitte Mai mit bis zu 30 Prozent in den Umfragen ein zuvor nie gekanntes Höchstniveau erreicht.
Wahlkampfchef Kellner erinnert sich noch mit Grausen an die Veggie-Day-Kampagne 2013 oder die Forderung nach dem Aus für den Verbrennungsmotor im Bundestagswahlkampf 2017, was am Ende vermutlich viele Stimmen gekostet hat. Schnell könnte da der 120-Euro-CO2-Emissionspreis zu einem ähnlichen wahltaktischen Rohrkrepierer werden. Vor allem, da die Grünen noch mehrere solcher hochsensiblen Themen in ihrem Wahlprogramm versteckt haben. Thema Mobilität: Da soll unter anderem der Autobahnausbau sofort gestoppt werden. Kanzlerkandidatin Baerbock gibt sich auf Nachfrage auch auf diesem Gebiet im Vorfeld des Programmparteitages sehr zurückhaltend. „Alle Straßenprojekte müssen auf den Prüfstand, auch die Autobahnen“, ist ihre kurze aber knappe Antwort mit dem Zusatz, dass dies aber noch konkret definiert werden müsse. Im Rahmen der Verkehrswende soll es dann „ein kluger Mix“ werden. Doch auch hier ist die grüne Basis grundsätzlich anderer Meinung, hält weniger vom Prüfstand, dafür umso mehr davon, keinen Autobahnneubau zu betreiben. Aber so ein Parteitagsbeschluss könnte zukünftige Koalitionsverhandlungen sowohl mit der SPD, aber auch mit der Union reichlich erschweren.
Bei den Spitzen-Grünen ist man deshalb stark bemüht, solche Hürden gar nicht erst ins Programm reinschreiben zu lassen, und die Zeichen stehen gut für dieses Unterfangen. Denn es handelt sich erneut um einen digitalen Parteikonvent, und das vereinfacht die Parteitagsregie um ein Vielfaches. Die grünen Zusammenkünfte lebten bislang vor allem von Spontaenität und politischen Emotionen. Doch die kann es im Netz so nicht geben und wenn, dann lassen sich diese digital besser steuern als bei einem Parteitag zum Anfassen. 3.700 Änderungsanträge liegen vor. Wollte man diese alle im Rahmen der grünen Debattenkultur abarbeiten, würden drei Tage bei weitem nicht reichen, eher drei Wochen. Darum werden die Anträge nach Themenlage gebündelt, auf einem Präsenzparteitag kann man sich da immer noch mal schnell über die Tische hinweg verständigen, manchmal reichen Blicke zwischen den Blöcken, um einer Parteitagsdebatte eine völlig neue Wendung zu geben. Doch das fällt nun alles weg, es wird ein rein technischer Ablauf, bei dem vor allem die Programkommission gefordert ist. Gerade erst hat die FDP auf einem solchen Parteitag das Kunststück fertiggebracht, aufgrund des Abstimmungsdurcheinanders für die Legalisierung von Drogen zu stimmen, was dann umgehend wieder kassiert wurde. Aber der Umstand zeigt, ein digitaler Parteitag ist nicht mit einem Präsenzparteitag zu vergleichen, schon gar nicht bei den Grünen.
Hinzukommt, dass es jetzt ums Kanzleramt und nicht nur um ein paar Prozentpunkte mehr oder weniger bei der Bundestagswahl geht. Das wird für den nötigen Rest an Parteitags-Disziplin sorgen.
CDU sucht nach Programm zum Weiterregieren
Doch egal, was die Grünen auf ihrem Wahlparteitag auch beschließen, die Latte für mögliche grün-schwarze Koalitionsverhandlungen hängt sowieso reichlich hoch und wurde von CSU-Chef Markus Söder noch ein Stück höher gehängt. Söder schließt eine Beteiligung an einer nicht von der Union geführten Regierungskoalition kurzerhand aus. „Wenn die Union nicht mehr den Kanzler stellt, dann ist sie faktisch abgewählt. Und eine abgewählte Partei muss einen anderen Weg der Erneuerung antreten“, und das gehe eben nur in der Opposition, so der bayerische Ministerpräsident. Doch bis zu dieser Entscheidung ist es noch eine Weile hin.
Zuvor muss auch die Union erst einmal ihr „Regierungsprogramm“ vorstellen. Denn auch ohne den jüngsten Söder-Einwand haben CDU und CSU ein gewisses Eigenverständnis von Wahlprogrammen und daraus resultierenden Koalitionsverhandlungen. Seit Jahrzehnten legt die Union zu Bundestagswahlen nicht so etwas Profanes wie ein Wahlprogramm vor. Unter einem Regierungsprogramm fängt sie gar nicht erst an. Und da machen Verhandlungen nur Sinn, wenn man nach dem 26. September auch den Kanzler stellt; und nicht eine Wahlsiegerin vor der Nase hat, der man Punkte aus dem eigenen „Regierungsprogramm“ schmackhaft machen muss. •