14 Monate Dauermarathon: Das deutsche Klinikpersonal, vor allem die Pflegekräfte, sind erschöpft, auch von der Unvorhersehbarkeit politischer Maßnahmen. Prof. Uwe Janssens, Ex-Präsident der Intensivmedizinischen Vereinigung DIVI, glaubt, dass dies zu einem Exodus aus dem Pflegeberuf führen kann.
Herr Prof. Janssens, wie erleben Sie als Intensivmediziner die Debatte um Corona-Politik und -Maßnahmen in Deutschland?
Anfangs gab es viel Unklarheit, auch Unsicherheit auf Seiten der Politik. Wir Intensivmediziner waren zunächst mit der technischen Organisation beschäftigt. Ich war von Anfang an der Meinung, dass in einer globalen Pandemie, wie wir sie erleben, das Konstrukt des Förderalismus eher kontraproduktiv für die Eindämmung dieser Pandemie ist. Zahlreiche Konferenzen von Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin haben nicht dazu beigetragen, dass die Sichtweisen klarer geworden sind, sondern haben sie verschlimmbessert.
Warum?
Weil die Menschen nach einem halben Dutzend Konferenzen dieser Art die Orientierung verloren haben. Wer orientierungslos ist, richtet sich dorthin aus, wohin seine Meinung ohnehin schon pendelt. Dies hat zu einer stark polarisierten Debatte geführt, die auch auf sozialen Medien verstärkt ausgetragen wird. Fake News, Fehl- und Hassinformationen zeigen, wie brisant dieses Medium in dieser Zeit sein kann, Menschen unterschiedlicher Einstellungen aufhetzt und auf die Straße bringt. Die Politisierung einer globalen Viruserkrankung und die polarisierte Debatte darüber, die bis in den Bundestag reicht, reißt die Menschen auseinander.
Welche Erfahrungen haben Sie konkret gemacht?
Wir haben mehr als einmal wüste Beschimpfungen bis hin zu strafrechtlich relevanten Drohungen bekommen, zum Beispiel, dass man uns erschießen oder aufhängen sollte. Ich habe einmal eine Strafanzeige erstellt, aber das Verfahren wurde mangels Beweisen eingestellt.
Was hätten die politischen Entscheidungsträger anders machen müssen?
Sie hätten mehr Einigkeit demonstrieren müssen, über Parteigrenzen hinweg. Letztlich gab es 16 bis 20 verschiedene Meinungen und Wege, mit der Pandemie umzugehen. Dies hat der Pandemiebekämpfung geschadet. Hinzu kam dann noch die Kanzlerfrage, die dazu geführt hat, dass Wissenschaftler mit ihrer Expertise gar nicht mehr punkten konnten, während die Politik mit sich selbst beschäftigt war. Das gleiche ist im Übrigen im US-Wahlkampf geschehen.
Sind Sie nach den vergangenen anderthalb Jahren überhaupt noch motiviert, über die Corona-Maßnahmen zu diskutieren?
Man wird des Streitens müde. Ich habe kürzlich ein öffentliches Streitgespräch mit einem bekannten Virologen abgesagt, weil diese Pandemie und ihre Zusammenhänge so komplex sind, dass wir es in dieser Form nicht öffentlich ausdiskutieren können. Weder der eine noch der andere könnte diese Zusammenhänge so erklären, dass die Öffentlichkeit umfassend informiert wird.
Was erlebten die Pflegekräfte auf Ihrer Station?
Die Pflegekräfte stehen seit 14 Monaten in einem Dauermarathon. Es gibt Intensivstationen in Deutschland, die bis zu 150 beatmete Covid-19-Patienten versorgen. Sie machen sich keine Vorstellung davon, was dies bedeutet. Die Arbeit der Intensivpflegekräfte ist extrem anstrengend, physisch wie psychisch. Deren Verständnis insbesondere für Coronaleugner ist logischerweise gering. Ich kann mich erinnern, dass die Pflegekräfte, die eine dieser Demonstrationen im Sozialraum kopfschüttelnd verfolgt haben, darüber diskutierten und dann irgendwann sagten: Gerade diesen Menschen müssen wir helfen, wenn sie krank werden, damit sie sehen, was diese schwere Erkrankung an SARS-CoV-2 für massive persönliche Konsequenzen für die betroffenen Menschen hat und welcher Riesenaufwand die Versorgung dieser Patienten bedeutet. Und hinzu kommt der Stress in einer angehörigenzentrierten Intensivbetreuung. Denn in Zeiten, in denen Angehörige die Patienten nicht mehr besuchen durften und diese im Sterben lagen, waren die Pflegekräfte häufig die einzigen, die diese Menschen auf ihrem letzten Weg begleitet haben. Dass dies zu anhaltenden Belastungen bis hin zum Burn-out führt, ist völlig klar.
Erleben wir aufgrund dessen in den kommenden Monaten einen Exodus aus dem medizinischen Pflegeberuf?
Wir haben eine Befragung diesbezüglich durchgeführt. 30 Prozent von 1300 Befragten haben erklärt, coronabedingt dem Krankenhaus den Rücken kehren zu wollen. Schon 15 Prozent würden uns schmerzlich fehlen.
„Man wird des Streitens müde“
Das Ärzteblatt spricht von 9.000 Pflegekräften, die mit dem Gedanken spielen, den Beruf an den Nagel zu hängen. Welche Auswirkungen hätte dies?
Hierzu zählen auch andere Pflegekräfte, aber ja: Dies war schon unsere große Sorge vor der Pandemie, und diese wird nun größer. Wir haben in der Vergangenheit zu wenig Personal in der Pflege rekrutiert und im Pflegebereich zu sehr gespart. Das fällt uns nun auf die Füße. Die Pflegepersonal-Untergrenze haben wir über Jahre nicht beachtet, sprich eine Pflegekraft auf zwei Patienten tagsüber, eine Pflegekraft auf drei Patienten nachts. Wir müssen genauere, planbare Pflegebemessungsinstrumente schaffen, das Prinzip „one size fits all“, ein Plan für alle deutschen Krankenhäuser, funktioniert in der Praxis nicht. Etwas Entsprechendes plant ja Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bis 2024, darauf müssen wir also wohl noch eine Weile warten.
Wie sieht dies auf Intensivstationen aus?
Aus einer Studie aus dem Jahr 2019 wissen wir, dass uns in Deutschland rund 4500 Intensiv-Fachpflegekräfte fehlen. Das ist nicht mehr geworden. Ein konkretes Beispiel: Wir haben hier im Krankenhaus Intermediate Care, also Intensivüberwachungspflege und Intensiv-Pflege zusammengefasst, sodass wir nun statt 19 24 Betten betreiben können. Diese können wir aber nicht alle betreiben, weil uns Personal fehlt, dass die Patienten in diesen Betten überwacht und betreut. Vor der Pandemie wurden viele Stimmen laut, die von einer Überversorgung mit Krankenhausbetten sprachen. Ja, wir sind Weltmeister bei Intensivbetten, 34,9 pro 100.000 Einwohner, in Frankreich sind es 16,6. Aber wir haben das dafür vorgesehene Personal nicht, und der Pflegeschlüssel 1:2 funktioniert so nicht: Corona-Patienten, die invasiv beatmet werden müssen, brauchen in der Regel eine Pflegekraft pro Patient, plus Back-up für zusätzliche Unterstützung bei der sehr aufwendigen Belagerung der Patienten.
„Wir sind Weltmeister bei Intensivbetten“
Was müssen wir also dafür tun, um diesen Beruf wieder zu stärken?
Unterstützenswert ist sicherlich die „Aktion Pflege“, die das Bundesgesundheitsministerium mit anderen Ministerien zusammen aufgelegt hat. Der Pflegeberuf muss attraktiver werden. Verdienst, Arbeitszeiten, Vereinbarkeit von Familie und Beruf, bessere Aufstiegsmöglichkeiten und mehr Kompetenzen sind die wichtigsten Kriterien dafür. Die Akademisierung in der Pflege hat dazu geführt, dass die Pflegekräfte ihren Master haben, aber nicht einmal am Krankenbett ein Aspirin verordnen dürfen. Da müssen sich die Ärzte von ihrem Standesdünkel verabschieden. Und dann müssen sich Krankenhäuser mal darüber Gedanken machen, was sie alleinstehenden Müttern, die im Pflegeberuf arbeiten, anbieten können. Viele können nach der Geburt ihrer Kinder nicht in den Beruf zurückkehren, weil für eine ausreichende und so effektive Kinderbetreuung nicht gesorgt ist. Gleiches gilt im Übrigen auch für Ärztinnen. Über diese Dinge würde ich mir eine Debatte wünschen.