Lange wurde in der Kunstwissenschaft eine rätselhafte Bleistift-Kritzelei auf Edvard Munchs berühmtestem Werk „Der Schrei" als Akt des Vandalismus angesehen. Nun konnten Osloer Museumsexperten nachweisen, dass der Maler selbst dafür verantwortlich zeichnete.
Den außergewöhnlichen Rang, den das Gemälde „Der Schrei" des norwegischen Malers Edvard Munch in der internationalen Kunstwelt genießt, konnte 2012 wieder Mal eindrucksvoll untermauert werden. Denn damals wurde das Bild, dessen Motiv gemeinhin als zeitloser Typus urmenschlicher Angstzustände angesehen wird, zum Rekordpreis von fast 120 Millionen Dollar auf einer Sotheby’s-Auktion versteigert. Dabei hatte es sich nicht um das 1893 entstandene Original gehandelt, sondern um eine von drei bis 1910 fertiggestellten späteren Versionen, von denen sich nur noch eine in Privatbesitz befunden hatte, nämlich in Händen des norwegischen Unternehmers Petter Olsen, dessen Vater einst ein Freund und Förderer Munchs gewesen war. Die drei anderen Umsetzungen hatten längst im Osloer Museum eine Heimstätte gefunden. Das expressionistische Meisterwerk mit der schreienden menschlichen Figur vor einem roten Himmelshintergrund wurde durch den Verkauf 2012 zum bis dahin teuersten Auktions-Gemälde aller Zeiten. Die Inspiration für den „Schrei" hatte der Künstler laut Eintragungen seines Tagebuchs bei einem abendlichen Spaziergang mit Sonnenuntergang am Oslofjord erhalten, als er sich angesichts der Allgewalt und menschlichen Vergewaltigung der Natur in einen Zustand tiefster Verzweiflung versetzt gefühlt und dabei angeblich tatsächlich einen Schrei vernommen hatte.
Im vergangenen Februar sorgte das Gemälde erneut für Schlagzeilen in den weltweiten Medien, weil Experten des norwegischen Nationalmuseums von Oslo das Original aus dem Jahr 1893 einer eingehenden Untersuchung unterzogen hatten. Ziel war es, das Rätsel um eine versteckte, kaum sichtbar im rötlichen Himmel des oberen linken Bildecks mit Bleistift aufgetragene Inschrift endlich zu lösen. Im Jahr 1904 hatte man den Schriftzug zum ersten Mal bemerkt, seitdem hielt man ihn in weiten Teilen der Wissenschaft für einen Akt des Vandalismus, den ein erzürnter Betrachter des Bildes heimlich nachträglich aufgekritzelt haben sollte. In Übersetzung ins Deutsche ist da zu lesen: „Kann nur von einem Verrückten gemalt sein!" Mithilfe von Infrarotaufnahmen und durch Handschriftenvergleich aus Briefen und Notizen des Künstlers gelangten die Kunstexperten schließlich zu der überraschenden Erkenntnis, dass Munch selbst der Urheber dieses Satzes gewesen sein muss. „Es besteht kein Zweifel, dass die Inschrift Munchs eigene ist. Wäre es Vandalismus gewesen, wäre es größer geschrieben worden", so Mai Britt Guleng. Der Inschrift wurde bislang laut dem Kuratoren-Team eigentlich viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Mai Britt Guleng dazu weiter: „Angesichts der Tatsache, dass es sich um ein so wichtiges Werk in der Geschichte der internationalen Kunst handelt, hat die Inschrift bemerkenswert wenig Beachtung gefunden." „Der Schrei" wird längst als so etwas wie die „Mona Lisa" der modernen Malerei gehandelt.
Mona Lisa der modernen Malerei
Als Auslöser für Munchs Griff zum Bleistift wird die erstmalige öffentliche Präsentation des Gemäldes im Rahmen einer Ausstellung und anschließenden Diskussionsrunde im Jahr 1895 in der damals noch Kristiana genannten Landeshauptstadt vermutet. Das Gemälde war größtenteils auf Ablehnung gestoßen. Vom damaligen Direktor des norwegischen Kunstmuseums ist die Notiz überliefert, dass man Munch nach diesem Werk nicht mehr als seriösen Menschen mit normalem Gehirn ansehen könne. Auch in der Diskussionsrunde brachte der Medizinstudent Johann Scharffenberg lautstark erhebliche Zweifel am gesunden Geisteszustand des Malers zum Ausdruck. Der anwesende Künstler fühlte sich von diesen Vorwürfen tief verletzt, was sich in späteren persönlichen Aufzeichnungen niederschlagen sollte. „Munch war besorgt, in seiner Familie könnte es eine Erbkrankheit geben", so Mai Britt Guleng, „Sowohl sein Vater als auch sein Großvater litten unter dem, was damals als Melancholie bezeichnet wurde. Seine Schwester musste in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt werden." Bei Munch war womöglich die Angst umgegangen, dass er selbst von ähnlichen Erkrankungen betroffen sein könnte, auch wenn sein Nervenzusammenbruch 1908 sicherlich andere Ursachen hatte. Was er mit seiner Inschrift letztlich bezwecken wollte, wird wohl immer Spekulation bleiben müssen. „Die Inschrift kann als ironischer Kommentar gelesen werden, aber zugleich als ein Ausdruck der Verwundbarkeit des Künstlers. Dass er auf das fertige Gemälde geschrieben hat, zeigt, dass das Erschaffen für Munch ein kontinuierlicher Prozess gewesen ist", sagt Mai Britt Guleng.