Im Jahr 1871, vor 150 Jahren, begann für das Elsass eine wechselvolle Geschichte. Viermal wurde die kleine Region zwischen Deutschland und Frankreich hin- und hergeworfen. Seit 75 Jahren ist jetzt Ruhe.
Der Rhein war die Grenze, hier begann Frankreich. Das war seit dem Westfälischen Frieden (1648) so, der den Dreißigjährigen Krieg beendete, und so blieb es zwei Jahrhunderte lang. Ludwig der XIV. änderte daran nichts, die Französische Revolution und Napoleon auch nicht. Links und rechts des Rheins war das unstrittig – man tolerierte einander. Am preußischen Hof sprach man Französisch, in Straßburg, der ehemaligen Freien Reichsstadt des Heiligen Römisches Reiches deutscher Nation, studierte Goethe 1770/71 an einer deutschen Universität.
Erst im Krieg zwischen Frankreich und Preußen wurde das Elsass zu einem Politikum zwischen den Nationen. Viermal mussten die Elsässer die Staatsangehörigkeit wechseln, viermal wurden die einen vertrieben und die anderen kamen zurück, viermal mussten sie ihre Amtssprache neu lernen.
Alles begann am 10. Mai 1871 mit dem Frankfurter Frieden, vor genau 150 Jahren: Das siegreiche Deutsche Reich, gerade in Versailles frisch gegründet, verleibte sich das Elsass zusammen mit einem partiell deutschsprachigen Teil von Lothringen als unmittelbares Reichsland Elsass-Lothringen ein. Der Krieg war für die Elsässer traumatisch verlaufen: Straßburg konnte die preußische Armee zwar ohne große Probleme einnehmen, aber im Norden wurde hart gekämpft. Belfort im elsässischen Süden bei Mülhausen hielt sich sogar länger als Paris.
Der Frankfurter Vertrag enthielt die Option für die Elsässer, zwischen Frankreich und Deutschland zu wählen. Wer Franzose bleiben wollte, musste innerhalb von zwei Jahren seine Heimat verlassen. Das taten rund 50.000 Elsässer, sechs Prozent der Bevölkerung. Es waren vorwiegend die Intellektuellen, wirtschaftlichen Führungskräfte, junge Männer, die dem Dienst in der preußischen Armee entfliehen wollten. Dafür strömten Abertausende von sogenannten „Altdeutschen" ins Land, die bis 1910 ein Sechstel der Bevölkerung stellten und sich die wichtigsten Positionen in Militär und Verwaltung sicherten.
Das Deutsche Reich ging sofort daran, das Elsass zu „entwelschen", sprich einzudeutschen. Deutsch wurde Standardsprache, das Französische verpönt, die Ortsnamen eingedeutscht, die Geschichte umgeschrieben. Ähnlich wie in den polnischsprachigen Regionen im Osten sahen sich französischsprachige Gemeinden und Familien Elsass-Lothringens entschiedenen Germanisierungs- und Assimilierungsversuchen ausgesetzt.
Wenn man bedenkt, dass zwischen 1871 und 1918 eine ganze Generation unter diesen Vorzeichen heranwuchs, dann ist es erstaunlich, wie sehr die Elsässer ihre französische Identität erhalten haben. Zwar sprechen viele im Nordelsass noch den traditionellen alemannisch-moselfränkischen Dialekt, das Elsässerditsch, der eine Verständigung auch auf Deutsch ermöglicht. Doch fällt ein deutscher Tourist einfach so mit seinem Deutsch rücksichtslos mit der Tür ins Haus, kann er erleben, dass ihn „keiner versteht". Bis er sein Schulfranzösisch herauskramt. Deutsch war immer die Herrensprache, die Elsässer galten als ungebildet, von Preußens „Erbfeind" verdorben und hatten sich anzupassen.
Immer wieder kam es zu Säuberungswellen
Aber auch die Franzosen gaben kein Pardon, als das Elsass nach dem Versailler Vertrag wieder an Frankreich zurückgegeben werden musste. 300.000 Altdeutsche wurden ausgewiesen, alteingesessene Elsässer, die allzu eng mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten, der Kollaboration verdächtigt und vor Gericht gestellt. Der Erste Weltkrieg hatte die Bevölkerung zerrissen. 200.000 Elsässer dienten, meist gegen ihren Willen („malgré-nous"), in der deutschen Armee, 20.000 kämpften für Frankreich.
Französisch galt jetzt als einzige Amtssprache, Elsässerditsch als unerwünschter deutscher Dialekt. Kultur und Tradition der Elsässer interessierten Paris nicht, die Zentralregierung zeigte kein Verständnis für ihre Mehrsprachigkeit. Als Gegenreaktion entstand eine Partei der Autonomisten, die Unabhängigkeit von Frankreich und von Deutschland forderten. In den 1930er-Jahren bauten die Franzosen die stark befestigte Maginot-Linie über den Kamm der Vogesen hinweg, eine Kette von Bunkern, Artilleriestellungen, Schützengräben, die an der gesamten Ostgrenze Frankreichs entlang lief und vor einer erneuten deutschen Invasion schützen sollte. Sie erwies sich als nutzlos, die deutsche Wehrmacht marschierte durch Belgien und Luxemburg und fiel von Nordwesten nach Frankreich ein. Noch heute kann man die Ungetüme aus Stahlbeton besichtigen, sie stehen wie Mahnmale in der Landschaft.
Der Zweite Weltkrieg begann für die Elsässer mit einer groß angelegten Evakuierung: 430.000 Menschen deportierten die Franzosen als potenzielle Unterstützer der Deutschen nach Südwestfrankreich. Im Juni 1940 besetzten deutsche Truppen das Elsass. Zusammen mit Lothringen machten die Nazis daraus den „Gau Oberrhein" und unterstellten ihn einem Reichsstatthalter. Mit Gewalt und Propaganda versuchten die neuen Herren die Elsässer, die für sie „Volksdeutsche" waren, zu germanisieren. Die Juden wurden deportiert, in Schirmeck und in Struthof-Natzweiler errichteten die Nazis zwei Konzentrationslager, 1942 wurden 130.000 Elsässer in die Wehrmacht gepresst. Sie mussten später lange auf ihre Anerkennung als Kriegsveteranen und ihre Rente warten.
Wieder setzte nach 1945 eine Säuberungswelle ein – Frankreich wollte der Region seinen Stempel aufdrücken. Erst nach einer Generalamnestie 1953, auch für die zwangsrekrutierten Soldaten, entspannte sich die Lage. Doch Deutsch zu sprechen blieb untersagt, das galt auch für das „Elsässerditsch". Erst ab Mitte der 1960er-Jahre gab es im Elsass eine Rückbesinnung auf elsässische Traditionen und die eigene Sprache. In den 1970er-Jahren durfte wieder Deutsch unterrichtet werden, und ab 1976 erhielt das Elsass seine Kulturautonomie. Und seit den 1990er-Jahren existiert die „Euroregion Elsass – Baden-Württemberg – Basler Land".
Elsässerditsch geht mehr und mehr verloren
Wie absurd die Sprachregulatoren vorgingen, zeigt eine Anekdote. 1870 gab es im Elsass eine Familie Lagarde. Die deutschen „Germanisierer" machten daraus: Familie Wächter. „Wächter" war für die Franzosen 1920 einfach „La Vache" (die Kuh). Madame und Monsieur La Vache mussten sich dann ab 1940 in der deutschen Besatzungszeit gefallen lassen, dass sie nun Herr und Frau Kuh hießen. Wieder unter französischer Oberhoheit wurde es ihnen zu bunt, und sie beschlossen zu dem alten Namen „Lagarde" zurückzukehren.
Das lange Beharren auf einer allgemein-verbindlichen Sprache – ob Französisch oder Deutsch – hat das Elsässerditsch zurückgedrängt. Heute sprechen nur noch etwa 60 Prozent den alemannisch-fränkischen Dialekt. In den 1960er-Jahren waren es noch 80 Prozent. Von dem in Obernai geborenen Schriftsteller René Schickele (1882-1940) stammt ein Spottgedicht auf die Elsässer: der „Hans im Schnokeloch", (das ist dort, wo das Elsass in die Feuchtgebiete am Rhein übergeht – ein Paradies für Schnaken):
D’r Hans im Schnokeloch hett alles,
was er will:
Und was er hett, des will er nit
und was er will, des hett er nit;
D’r Hans im Schnokeloch hett alles,
was er will!
Schickele wollte das Nationalitätendenken entschärfen, für ihn war es egal, wo er hingehörte: „Gestern deutscher, heute französischer Staatsbürger – ich pfeif drauf!". Tomi Ungerer (1931-2019), in Straßburg geboren, machte sich als Maler, Illustrator, Zeichner und Kinderbuchautor einen Namen. Seine Blätter sind teilweise so derb und frech, dass sie in den prüden USA verboten wurden. Pfarrer Oberlin, ein die wirtschaftliche Entwicklung des Elsass im 19. Jahrhundert vorantreibender Sozialreformer war Elsässer.Der ehemalige französische Ministerpräsident und Präsident des Europäischen Parlaments (1984-1987) Pierre Pfimlin (1907-2000) stammen ebenso aus der Region, wie die Chansonsängerin Patricia Kaas.
Auch kulinarisch hat die Region einiges zu bieten
Heute ist das Elsass ein begehrtes Reiseziel für Liebhaber des guten Essens und Trinkens. Die Elsässer Weißweine sind berühmt: Gewürztraminer, Pinot Blanc, Riesling, Silvaner. Die Winzer haben sich auf das Terroir konzentriert, die Zeit der Massenherstellung wie in den 1950er-Jahren ist lange vorbei. Eine Besonderheit ist der Crémant, ein weißer Schaumwein, der weniger Kohlensäure hat als der Champagner, aber im Geschmack durchaus mithalten kann. Das Elsass pflegt eine bodenständige Küche aus alemannischer Tradition mit französischem Einschlag. Tomi Ungerer bemerkte einmal: französische Küche, aber deutsche Portionen.
Erstaunlich ist, was die Köche alles mit choucroute anrichten, dem traditionellen elsässischen Gericht mit Sauerkraut. Es gibt choucroute mit Würstchen, Schweinefleisch, aber auch mit Zander und Lachs. Die tarte flambée, der Flammekueche, ist mittlerweile überall bekannt, aber nur echt im Elsass. Besonders Hungrige bestellen sich einen Baeckeoffe: Rind-, Schweine- und Lammfleisch werden in Weißwein zwischen Schichten aus Kartoffeln und Zwiebel stundenlang geschmort. Und ein Gugelhupf, der klassische Hefekuchen aus der typischen gusseisernen Form, fehlt auf keinem Buffet.
150 Jahre nach dem Beginn des Herumschubsens dieser reich gesegneten Region ist Ruhe eingekehrt – und man kann ein wenig verstehen, warum die Abgeordneten des Europäischen Parlaments unbedingt an ihrem Zweitsitz Straßburg, neben dem hektischen Brüssel, festhalten wollen.