Thore Hildebrandt stemmt sich gegen den Wahnsinn unserer Wegwerfgesellschaft. Der Essensretter zeigt in Kursen, was man aus aussortierten Lebensmitteln Leckeres und Gesundes kochen kann. Ergänzt durch frische Bio-Produkte kreiert er vegane Köstlichkeiten.
In Deutschland werden jährlich mehr als 18 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeschmissen. Diese Zahl geht schwer von der Zunge, das Ausmaß ist kaum vorstellbar. Zusammengeworfen wäre das wohl schon ein ganzer Gebirgszug an alimentären Verlusten. „Sich darüber aufzuregen ist das eine, das Thema proaktiv anzugehen das andere", lautet das Credo von Thore Hildebrandt. Auch er hat eine Zahl anzubieten: Seine 722 Kilo Lebensmittel ergäben einen stolzen Hügel – allerdings von veganen Köstlichkeiten. Der Berliner rettet Lebensmittel vor der Tonne.
Durch seine Arbeit als „Nachhaltiger Koch für kreative, pflanzliche Kocherlebnisse" und „Essensretter" möchte er andere animieren, genauer hinzusehen. Zu seiner „Ausbeute", die er im Laufe des vergangenen Jahres gerettet hat, kommen noch 90 Liter Getränke – darunter auch Weine, die für den genormten Verkauf schon einen Tick zu lange in der Flasche ruhen. 2.512 Kilometer ist er 2020 durch Berlin geradelt – von Bezugsquelle zu Produktionsstätten und Lieferadresse.
Mit Zahlen kannte sich Thore Hildebrandt früher in anderer Form schon gut aus. 18 Jahre war er international agierender Bänker. Als er 2016 nach Asien versetzt wird, kündigt er, verweilt in einem buddhistischen Kloster in Kathmandu, geht auf (Lebens-)Reise. Mit dem Rad fährt er Tausende von Kilometern – von Auckland nach Christchurch, von Köln nach Athen. „Ich war auf der Suche nach mir und meinem Weg. Was mich am meisten erfüllte, war die Gastfreundschaft und das gemeinsame Kochen und Essen mit den offenherzigen Menschen am Wegesrand."
Wieder zu Hause kommt ihm die Erkenntnis, in einem absurden Überfluss zu leben, in dem ein Drittel der Lebensmittel im Müll landen. Inspiriert von den Initiatoren von Sirplus, einem Berliner Supermarkt für gerettete Lebensmittel, beginnt er damit zu kochen. Lädt Gäste zu ersten „Retterdinnern" ein. 2019 dann deutschlandweit seine ersten pflanzenbasierten Supper Club- und Unternehmensdiners. Die „Kocherlebnisse" finden zumeist in kollektiven Food-Locations, Start-up-Küchen oder dem charmanten Hinterhof einer Bio-Bäckerei statt – Hauptsache entspannt.
„Ich gebe keine klassischen Kochkurse, bin kein Anweiser, sondern Impulsgeber. Wer bei mir kocht, möchte was beitragen zum großen Ganzen. Neugierde, Interaktion, Geschmack und Spaß sollen dabei mit in die Töpfe", sagt der Multikoch, der seine Gäste inspirieren will, neue Wege zu gehen für ein gesünderes und bewussteres Leben respektive der Ressourcen. Zusammen mit seiner Idee „Wenn schon die Welt retten, dann lecker" legt er seine geballte Erfahrung auf die Teller.
Im Rückblick kann man sich eine seiner Veranstaltung so vorstellen: Während um ihn herum geschnippelt, gerührt und gebraten wird, mischt sich schnell ein internationales Sprachgewirr in Dampfschwaden und Kochdüfte. Durch Kooperationen mit relevanten Netzwerken kommen Gäste aus aller Welt an Thores lange Tafel. Ob auf der Durchreise, wie ein Business-Aussteiger aus Boston, der ein Geschäft mit veganem Ersatzkäse plant, zwei Mitglieder des Berliner Zero Waste-Vereins oder eine finnische Bloggerin, die ihren neuen Vegan-Blog mit Content bespicken möchte.
Sieht sich selbst als Impulsgeber
Kids bringen generell guten Drive mit, die Future-of-Now-Jugend lade ihre Eltern ein. Viele Rezepte entscheide er relativ spontan, je nach dem, was er so an geretteten Ingredienzien zusammentrage. Was gekocht wird, steht handgeschrieben auf locker über den großen Tisch verteilten A-4-Seiten.
Die ersten haben schon ein paar Spritzer Rote-Bete-Saft und bestes Bio-Öl abbekommen. Das gehöre ebenso zu Thores „Standard-Reiseapotheke" wie seine Umami-Basics Sojasauce, Kalama Nak (indisches Schwarz- oder Schwefelsalz für den Eigeschmack), geräuchertes Paprikapulver, Liquid Smoke oder das säuerliche Sumak – eine Art Berberitze. Apfelessig oder Gurkensud tun es aber auch. Auch getrockneten Shiitake-Pilze und diverse Nuss-Muse aus Cashew oder Mandeln bringen Geschmack und Konsistenz.
Hildebrandt erläutert in fluffig-nonchalantem Wording seinen „Koch-Gig", den er mit Anekdötchen bespickt. Schnell geht’s dann auch ans Eingemachte mit vielen Verwertungs-Tipps. „Ich verrate, mit ausdrücklichem Wunsch zum Nachahmen, meine Bezugsquellen", sagt Hildebrandt, der im Schnitt mit 80 Prozent geretteten Lebensmitteln und zugekauften BioProdukten kocht. Die Nachfrage nach Zero Waste steige. Seinen Hauptlieferant Sirplus gibt es mittlerweile an drei Standorten. Auch den neuen Ableger für Endkonsumenten von „Querfeld", die sonst nur krumme und nicht genormte Bio-Lebensmittel aus Deutschland und der EU in größerer Marge an Großhändler lieferten, empfiehlt er: Bei „Feldbotschaften" werden kleinere Mengen heruntergebrochen und über individuell organisierte Verteilerstellen auf Kieze verteilt. Klasse sei auch die App „To good to go", bei der von der Frischetheke über Restaurant, Sushi-Laden, Hotel bis zum Lieblingsbäcker Restebestände zu erwerben sind. Manche bringen Tupperware-Dosen zum Abfüllen mit. Auch mit einigen Bio-Supermärkten kooperiere er.
Brot sei das Lebensmittel, das als Erstes in der Tonne lande – ein Volumen von 15 Lastwagen pro Tag. Bei Hildebrandt werden daraus Brotlinge – kleine, knusprige Cracker mit Pilzen und Zwiebeln. Bei seinen Kochrunden haben sie wie auch Brotcroutons und Pasten aus Grillgemüse einen festen Platz als Vorneweg-Snack oder Knusper-Topping. Brot-Crumble, für die er Semmelbrösel mit Ahornsirup, Olivenöl und Sojasauce mixt und sie langsam bei 175 Grad im Ofen röstet, bieten einen Knuspereffekt für obendrauf, und auch seine Rest-Brot-Serviettenknödel sind der Hit. Dick, dreidimensional cremig und gebrochen weiß wie Eiweiß, ruht die frisch geschlagene Mayonnaise – ein Aha-Effekt-Liebling der Gäste – in kleinen Porzellanschälchen neben einem halben Dutzend hand-etikettierter Gewürzdöschen. Man sieht und schmeckt es dem cremigen Klassiker nicht im Geringsten an, dass er wie alles andere aus dem „Retter-Menü" zu 100 Prozent vegan ist. Ein neutrales Öl trifft ohne Ei auf Seidentofu, Sojamilch und Cornichon-Wasser.
„Wenige Zutaten sind oft mehr"
Der Kunstgriff für den kaltgerührten Klassiker sei, mit viel Gefühl den Stabmixer anzusetzen. Zu lang gerührt, ist die cremige Pracht schnell dahin. Hildebrandt platziert mit Schwung, aber dennoch behutsam je einen Klecks auf seine Brotlinge. Chutneys aus Zucchini, Paprika, Äpfel und frittierte Kapern finden ebenso in den Mixer wie ein Dipp aus Sojajoghurt, Mandelmus und Koriander. Der Borschtsch – eine ukrainische Rote-Bete-Suppe – wird mit Orange, Apfel, Pastinake, Karotte, Soja und Balsamico verfeinert. „My dishes are very easy staff, no time for spam", schmeißt Thore lässig in die Runde. „Einfach kann jeder, wenig Zutaten sind oft mehr", so die Devise.
Das Verfallsdatum sei dabei ebenso wenig relevant wie die Schönheitsfehler von krummem Gemüse. Die wandern mariniert und bunt durchmischt auf große Bleche unter den Ofengrill. Es lebe das Allerlei. Sehr beliebt auch die Fleisch- und Fisch-Fakes: Bolognese schmeckt auch mit Linsen. Ein frisch-mundiger Karottenlachs ohne Lachs wird mit Liquid Smoke und Algen kredenzt. Das sei aber schon „Advanced Workshop-Niveau".
Viele Lieblingsgerichte prägen sich durch Kindheitserinnerung ein. Der Mittvierziger liebte als Knirps den Eiersalat seiner Mutter. Den imitiere er heute mit Nudeln, Kichererbsen, Gürkchen und Schwefelsalz. Mit Letzterem bekomme man geschmacklich auch das geliebte „Ersatz-Rührei" köstlich hin. Tofu mit unterschiedlicher Konsistenz und Kurkuma sorgen für Konsistenz und Farbe. Und natürlich wird statt Kuhmilch stets zum mannigfaltigen Pflanzenmilch-Repertoire wie Mandel- oder Hafermilch gegriffen. Die gibt es ja schon in jedem normalen Supermarkt.
Am Schluss der Dessert-Eyecatcher: Ein Sorbet aus geretteten Zitronen liegt im Bio-Schalen-Bettchen. Das kann man gleich mitessen. Auch überreife Fundstück-Bananen können sich in köstliches Eis transformieren. Einfach ein paar Stunden tiefkühlen, pürieren und mit Kakao, Erdnussbutter oder Himbeeren servieren – schön süß, aber zuckerfrei. Bei Thore Hildebrandt fungiert jede Zutat als Botschaftsträger: Lebensmittel wert zu schätzen, seine Komfortzone zu verlassen und mit Retter-Geköchel Karmapunkte sammeln ist die Essensretter-Devise.