In der Diskussion um Lockerungen finden Kinder kaum Gehör. Dabei haben auch sie mit den täglichen Einschränkungen zu kämpfen, wie ein Besuch im Marzahner Kinderkeller zeigt.
Noch ist es dunkel im Kinderkeller Marzahn. Nur eine Biene zieht ihre Runden und summt leise vor sich hin. Da geht plötzlich die Tür auf, das Licht an und eine paar Kinder mit roten Wangen und zerstrubbelten Haaren stürmen herein. Das versetzt die Biene in Panik und auch einige der Kinder schlagen wild um sich. „Die tut euch nichts", ruft Marina Bikàdi, die Leiterin des Kinderkellers und bleibt in der geöffneten Tür stehen. Die Biene nutzt ihre Chance und fliegt davon. Marina Bikàdi verteilt bunte Becher. „Wer möchte Wasser?" Durstig greifen alle zu und setzen sich um den großen Tisch, auf dem noch Stifte und bunte Bilder von der gestrigen Malaktion liegen. Kaum sind die Becher leer und wieder eingesammelt, ziehen sich alle ihre Masken hoch, die bis dahin unterm Kinn hingen. Kinder in Zeiten der Pandemie.
Den Marzahner Kinderkeller gibt es schon seit 1994. In dem ausgebauten Keller eines Elfgeschossers am Stadtrand von Berlin werden Kinder von sechs bis 13 Jahren nach der Schule und in den Ferien betreut. Oft sind auch jüngere oder ältere Geschwister dabei. Träger ist der Kinderring Berlin e. V. Dazu gehört auch das Hochhauscafé gleich darüber und eine Pension in der zehnten und elften Etage, die Pension „11. Himmel", die bei West-Touristen beliebt ist. Bei deren Bewirtschaftung helfen die älteren Kinder mit. Sie sammeln so erste Erfahrungen für eine berufliche Perspektive in Gastronomie und Tourismus.
Freunde treffen war lange Zeit nicht möglich
Der Kinderkeller hat schon so manche schwierige Zeiten erlebt wie unsichere Finanzierungen oder Überschwemmungen. Immer wieder gab es Hilfe und Unterstützung. „Aber so was wie jetzt hatten wir noch nicht." Erzieherin Suzanne Stecher erinnert sich noch ganz genau, wie es begann. „Es war am Freitagnachmittag, einem 13., da kam ein Anruf von der Geschäftsführung: Wir machen zu. Keiner wusste, für wie lange. Wir haben dann mit den Kindern gesprochen und ihnen gesagt, wir sind aber für euch da. Am Montag kam ein Zettel an die Tür mit E-Mail-Adresse und Telefonnummer: Auf unbestimmte Zeit geschlossen! Es dauerte nicht lange, da kamen die ersten Kinder. Kommunikation war nur mit Abstand möglich oder vom Balkon herunter. Für Whatsapp oder Facebook waren sie ja noch zu jung".
Anfangs hätten sich die Kinder gefreut, weil sie nicht zur Schule mussten, aber nach einer Woche sei ihnen langweilig geworden. „Also haben wir uns was überlegt und Briefe an die Kinder geschrieben, Rätsel und Quizaufgaben dazugelegt. Die Freude war groß. Über die Sprechanlage haben wir sie eingeladen, kommt doch mal runter, wir können auf dem Hof spielen. Aber die Eltern hatten zu große Angst." Die, die sich trauten, konnten sich im Kinderkeller Bücher und Spiele ausleihen.
Als sich im Mai die Situation etwas entspannte und das Wetter besserte, wurde vieles nach draußen verlagert. Sie sind mit den Kindern sogar für ein paar Tage in Brandenburg unterwegs gewesen. Aber trotzdem blieben die Möglichkeiten begrenzt. „Wir haben auch versucht, mit den Eltern Kontakt aufzunehmen, denn einige der Kinder kommen aus schwierigen Verhältnissen", so Suzanne Stecher, „aber da wollte keiner mithelfen." Sie waren wohl froh, dass die Kinder betreut und ihnen auch bei den Hausaufgaben geholfen wurde. „Es durften ja immer nur fünf Kinder in den Raum und so haben wir uns mit den Praktikanten jeder ein Kind genommen und sind die Arbeitsblätter durchgegangen. Oft fiel ihnen am Donnerstag ein, dass sie am Freitag etwas abliefern müssen. Zu Hause hingen sie vor dem Fernseher oder am Handy. Bei uns konnten sie konzentriert arbeiten und auch mal nachfragen. Und dann die riesige Freude, wenn sie die Aufgaben zurückbekamen und mit leuchtenden Augen ganz stolz die Zwei oder Eins präsentierten. Da ist uns richtig das Herz aufgegangen."
Hier werden Kinder nach der Schule betreut
Wie wichtig für die Kinder die kleinen Erfolgserlebnisse waren, hat auch Simone Runow erlebt. Ihr jüngster Sohn ist zehn Jahre und geht in die vierte Klasse. „Die Kinder waren aufgeteilt", erzählt sie, „und er hat nicht verstanden, warum er seine Freunde nicht mehr sehen konnte. Er durfte ja auch nicht mehr in den Hort, weil ich zu Hause war. Auch die Holz AG, zu der er immer gern ging, fand nicht mehr statt. Das Homeschooling war anstrengend, wir brauchten immer so zwei Stunden für die Aufgaben, weil er keine Lust hatte." Sorgen machte sie sich, als er sich immer öfter in sein Zimmer zurückzog, kaum noch redete und die Türen knallte. Als dann noch Bauchschmerzen dazukamen, ging sie mit ihm zum Arzt. Es sei psychisch, stellte dieser fest, er komme mit der Situation nicht klar. Als ein weiteres Problem stellten sich die regelmäßigen Corona-Tests in der Schule heraus. „Weil er ängstlich war, habe ich den Antrag gestellt, ihn selbst zu testen." Inzwischen hat aber auch er Erfolge in der Schule und einige Einsen nach Hause gebracht.
Im Kinderkeller haben sich inzwischen einige verabschiedet, andere sind dazu gekommen oder schauen von der Tür herein. Dort hängt ein selbstgemalter Zettel mit den Verhaltensregeln. Darauf wird im Kinderkeller großen Wert gelegt, nicht erst seit der Pandemie. Und so zupfen sich die Kinder ihre verrutschten Masken schon automatisch wieder zurecht. Das Maskentragen und das Testen finden alle doof. Aber sie wissen, es schützt vor Ansteckung. Zum Glück sind alle bisher verschont geblieben. Nur Lisas Mutter erkrankte. „Mit meinem Papa und meiner Schwester habe ich drei Wochen bei der Oma gewohnt." Phoebe hätte es aber fast erwischt. „In der Schule hatten wir die letzten Stunden Ausfall, weil die Lehrerin gesagt hat, ein Schüler von uns hat Corona, und wir sollen schnell nach Hause gehen. Dann durfte ich zwei Wochen nicht mehr aus meinem Zimmer raus." Langweilig sei es gewesen, meint die 13-Jährige, und sie musste immer alles desinfizieren, wenn sie mal rauswollte. „Cool war, dass ich Essen ans Bett bekommen habe." Um den Onlineunterricht ist sie aber nicht herumgekommen. „Manchmal bin ich später aufgewacht und war verpeilt, aber ich habe mich entschuldigt."
Auch ihre Schwester Sydney haderte mit dem Homeschooling. „Das war doof, wegen der vielen Hausaufgaben. Meine Eltern wussten nicht so richtig Bescheid, und wenn ich Phoebe gefragt habe, hatte sie schlechte Laune. Aber meine Mitschüler haben mir geholfen." Die Elfjährige freut sich auf die Ferien und hofft, dann auch mal wieder baden gehen zu können. Wie die anderen Kinder wünscht sie sich, dass es wie die Jahre zuvor mit der Ferienreise nach Ungarn klappt. Ein fragender Blick zu Marina Bikàdi. Die zuckt mit den Schultern. „Wir wissen noch nicht, ob wir fahren können."
Das Maskentragen und Testen finden die Kinder nicht so toll
Einig sind sich alle in der Runde: Testen ist doof. Zweimal die Woche müssen sie das über sich ergehen lassen. Ihre anfängliche Angst haben die meisten überwunden und sich arrangiert. Doch mehr nicht. Der neunjährige Maxim würde gern wieder mal Sport machen oder ins Kino gehen oder Sushi essen, aber dafür sich extra testen lassen? Nö. „Ich will im Unterricht auch keine Maske mehr tragen, das ist so stickig. Ich möchte, dass Corona aufhört und alles wieder offen ist." Als im März 2020 das öffentliche Leben heruntergefahren wurde, waren auch die Bezirks-Jugendämter gefordert. Es mussten Gewohnheiten infrage gestellt, neu gedacht und mit innovativen Ideen positive Veränderungen erzeugt werden. Es galt, vorher unerkannte Möglichkeiten zu nutzen, um Neues zu schaffen, so das Fazit des Jugendamtes von Marzahn-Hellersdorf bei der Jahrespressekonferenz im Mai. Auf seiner Webseite gab es Tipps für die Freizeitgestaltung von Familien, Anregungen zum Spielen mit den Kindern und für einen guten Tagesrhythmus mit Homeschooling.
Das traf auf großes Interesse, es gab im März 2020 fast 5.000 Zugriffe auf die Seite. So wie der Kinderkeller wurden auch andere Träger von Kinder- und Jugendeinrichtungen und Familienzentren kreativ und haben ihre Angebote ins Internet verlegt. Es gab Onlinesprechstunden, Online-Kreativangebote, es wurde online gespielt und musiziert und sogar Sport gemacht. Natürlich fehlten auch Hausaufgabenbetreuung und Nachhilfe nicht. Wer Freiflächen hatte, nutzte die Gelegenheit für Gespräche über den Gartenzaun oder verteilte Freizeitpakete. Es mag paradox klingen, aber in vielen Einrichtungen konnte trotz Einschränkungen individueller mit den Zielgruppen gearbeitet werden, meist eins zu eins, weil ja die Kontakte reduziert waren.
Es ist inzwischen 18 Uhr. Maxim wird abgeholt, die anderen Kinder packen auch ihre Rucksäcke und verabschieden sich. Sie freuen sich auf morgen, da wird Theater gespielt – mit dem Tschechow-Theater. Alle zusammen geht nicht, wegen der Beschränkung werden sie in Gruppen eingeteilt. Aber so ist das eben in Zeiten von Corona.