Sie sind in ganz Berlin unterwegs. Die Sozialarbeiter von Gangway kümmern sich um Obdachlose, Flüchtlinge, Drogenabhängige und vor allem um Jugendliche, die schon überall rausgeflogen sind. Zu Corona-Zeiten war das wichtigste: Kontakt halten, niemanden verlieren.
Der erste Lockdown im vergangenen Jahr zu Beginn der Corona-Pandemie war für die Sozialarbeiter von Gangway ein Schock. Wo waren die Jugendlichen? „Es kann schon etwas frustrierend sein, in einem fast menschenleeren Stadtteil Streetwork-Rundgänge durchzuhalten", schreiben sie in ihrem Jahresbericht 2020. „Doch nur wer stetig da ist, wird wirklich als verbindliche und verlässliche Bezugsperson wahrgenommen. Nur wer bleibt, spürt, was sich im Stadtteil ändert …"
Gangway blieb dran, schließlich sind die rund 100 Sozialarbeiter, die in allen Stadtteilen Berlins unterwegs sind, ans Improvisieren gewöhnt. Die Teams kannten sich in ihren Stadtteilen aus, wussten, welche Orte und Nischen sich für Jugendliche trotz der Kontakteinschränkungen als Treffpunkt anbieten, und begannen sofort, an digitalen Formen zu arbeiten: Insta-Challenges, Workshops, Tutorials, Quizze, gemeinsame virtuelle Fifa-Spiele. Persönliche Kontakte – auf Abstand – liefen über Fensterberatungen oder Spaziergänge. Als der erste Schock sich gelegt hatte, entstand eine halbstündige wöchentliche Nachrichtensendung, die über die neuesten Corona-Maßnahmen informierte. Wer keinen Laptop oder Tablet hatte, konnte sich bei Gangway eins ausleihen.
200 Jugendliche wollten einen Abschluss machen
Auch das Streetcollege in Kreuzberg musste erst einmal schließen. Die Einrichtung in der unteren Etage und im Keller eines gesichtslosen Hauses in der belebten Graefestraße in Berlin-Kreuzberg verfügt über mehrere Unterrichtsräume, kleine Übungsräume und eine Terrasse, die nach hinten in eine große Wiese übergeht, wo man sich treffen, grillen, zusammen Musik machen oder einfach feiern kann. Hier kommen die Jugendlichen, zusammen die sich ihre Berufsbildungsreife (BBR) erworben oder den Mittleren Schulabschluss (MSA) gemacht haben. Ein letztes gemeinsames Treffen, ein Austausch, bevor dann jeder seinen Weg geht. Sie sind stolz, denn sie haben es geschafft, trotz Corona, trotz Online-Unterricht und nur wenigen Begegnungen.
„Immerhin hatten sich in der Corona-Zeit fast die Hälfte mehr als sonst für diese Abschlüsse angemeldet", sagt Tanja Ries, die Leiterin von Streetcollege. Das Lernlabor verzeichnete insgesamt einen Anstieg auf 200 Teilnehmer, davon 120, die bei Online-Formaten mitmachen. Vor Corona kamen 65.
Bevor jemand das Streetcollege mit einer Schule für Straßenjugendliche verwechselt, gilt klarzustellen: „Hier verfahren wir nach dem Grundsatz, Lernen geschieht nur freiwillig, selbstbestimmt und in Eigenverantwortung", so Tanja Ries. Nach ihrer Überzeugung kann man niemand motivieren, man kann nur herausfinden, was jemanden motiviert."
Natürlich geht es um junge Menschen, die von der Schule geflogen, in der Lehre gescheitert oder mit den Ansprüchen nicht zurechtgekommen sind. Oder schlicht keinen Bock auf gar nichts haben. „Aber wenn sie zu uns kommen, werden sie freundlich und zugewandt empfangen, nicht mit Vorurteilen. Sie können sagen, was sie lernen möchten, welche Stärken sie haben, was sie gut können." Das kann dann so laufen, dass je nach Bedarf neue Formen entstehen. In Corona-Zeiten waren das zum Beispiel Songwriting und Zeichnen als Online-Format, Video-Tutorials für Gesangsübungen, gemeinsames Kochen. Wichtig war, dass die Prüflinge weitermachten.
Nach ein paar Wochen, als Corona-Vorsichtsmaßnahmen schon zum Alltag gehörten, trafen sich auch kleine Lerngruppen wieder – mit Abstand und Mundschutz. „Es gab etliche, die hierhin kommen wollten, weil sie zu Hause keinen Raum für sich haben, um online zu lernen. Andere blieben zu Hause, tauchten gar nicht mehr auf und waren zufrieden mit dem virtuellen Kontakt", berichtet Tanja Ries.
Im Sommer 2020, als alles lockerer wurde, trafen sie sich zu einem Sommercamp im Garten des Streetcollege-Hauses. Da passierte etwas, von dem Tanja Ries nur schwärmen kann. Die Jugendlichen, von denen sich manche bisher nur am Bildschirm gesehen hatten, stellten sich vor, erzählten über sich, sagten, was sie gut können. Bis auf einen. „Der stand auf und sagte: ‚Eigentlich kann ich gar nichts‘ . Aber einige andere meinten nur ,Wart’s ab. Heute Abend sagen wir dir, was du gut kannst." Am Ende war es Rap, der schüchterne Jugendliche entpuppte sich als begeisterter Tänzer.
Das ist Straßensozialarbeit, sagt Tanja. Wenn sich junge Menschen, die von anderen verloren gegeben wurden, gegenseitig bestärken. Und da sind wir wieder beim Prinzip Gangway. Wie arbeitet man mit jemandem, der überall – in der Schule, von den Eltern, von den Kollegen im Betrieb – gehört hat: Du hast eh keine Chance …? „Will man an die herankommen, muss das anders gehen – denn weder Schule noch herkömmliche Lehrmethoden konnten etwas erreichen. Da ist als Erstes Geduld und Zuhören gefragt. Nur wer die eigenen Talente entdeckt, wird sich selbst motivieren." Zugegeben: Manche würden fünfmal gegen die Wand rennen. „Aber wenn ich jemanden dazu hinbiegen will, etwas zu tun, dann ist das nicht nachhaltig. Er oder sie muss es selbst wollen."
Was sich in der Corona-Zeit gezeigt hat: Viele hatten Spaß daran, selbstständig online zu lernen. Und sie haben sich gut vernetzt, nach dem Motto, wenn wir schon keine Party machen können, dann lasst uns doch zusammen Kunst oder Musik machen. Die Clubs hatten geschlossen – das hat die jungen Leute aber nicht ins Elend gestürzt – im Gegenteil. Sie trafen sich in den Parks, spielten gemeinsam Boccia, warfen ein paar Bälle.
Tanja wehrt sich dagegen, Jugendlichen jetzt gleich wieder mit Lernzielen, Aufgabenheften, Lernkontrollen zu kommen. „Was die erlebt haben, das ist so einmalig, das ist für viele so erschütternd gewesen, dass man nicht zur Tagesordnung übergehen kann. Sie sind nicht verloren, sie sind anders als die Generation vor ihnen, weil sie in einer der wichtigsten Lebensphasen im Erwachsenwerden eine grundlegende Erfahrung gemacht haben: Nichts ist sicher, Pläne sind überflüssig, morgen kann alles ganz anders sein. Oder in den Worten von Gangway aus dem Jahresbericht: „Wir sahen es deshalb als unsere primäre Aufgabe 2020 an, wann immer möglich, Raum für die Arbeit mit unseren Gruppen zu schaffen, um der emotionalen Mangelwirtschaft in diesem Jahr zumindest mit ein bisschen Freude und Gemeinschaft entgegenzuwirken."