Schulschließungen, Lockdown, kaum Hilfsangebote. Silke Wendels ist Kinder- und Jugendpsychologin und hat erlebt, welche Auswirkungen die Krise und der fehlende Fokus auf die junge Generation hatte – aber auch, welche Chancen dadurch entstehen könnten.
Frau Wendels, Sie sind als Kinder- und Jugendpsychologin tätig und haben dort hautnah die Auswirkungen von Pandemie und Lockdown auf die junge Generation miterlebt. Was ist Ihnen aufgefallen?
Ich habe gesehen, dass bei Kindern und Jugendlichen eine große Vereinsamung stattgefunden hat. Gerade auch im zweiten Lockdown ging das in eine gewisse Hilfslosigkeit über. Ein „Ausgeliefertsein". Man kann irgendwie eh nichts tun. Das erklärt auch diese extreme Fixierung auf die digitale Welt, die ich sehr deutlich beobachte. Da ist zum einen die Sehnsucht, miteinander in Kontakt zu kommen, zum anderen aber auch eine gewisse Bequemlichkeit, die sich eingebürgert hat. Die Vorstellung, überhaupt noch einmal in den Schulalltag zurückzufinden, war für viele im ersten Moment regelrecht überfordernd. Täglich raus. Täglich morgens aufstehen. Sich fertig machen. So viele Menschen. Man hat deutlich gemerkt, dass sich eine Überforderung in allen Richtungen zeigt.
Warum sind es gerade Kinder, die von der Krise so stark getroffen werden?
Am Anfang gab es keinen Fokus auf Kinder. Alles war stillgelegt für sie – bis hin zu den Hilfestrukturen, die teilweise im Homeoffice nicht oder nur eingeschränkt erreichbar waren. Vereinsleben oder andere soziale Kontakte fanden nicht statt oder nur eingeschränkt im familiären Rahmen. Dann sind die „Kontrollfunktionen" von Schulen und Kindertagesstätten – sei es hinsichtlich Entwicklung, Versorgung, aber auch präventiver Aspekte – weggefallen. Da gab es eine riesengroße Verunsicherung, die Kinder natürlich auch miterleben. Wenn Kinder, die Schutz und Geborgenheit durch Erwachsene erleben sollen, sehen, dass diese Erwachsenen selbst komplett ratlos und überfordert sind, führt das dazu, dass Kinder dieses Gefühl selbst vermehrt erleben. Diese Halt gebenden Strukturen waren nicht mehr da oder nur sehr eingeschränkt.
Rechnen Sie mit Langzeitauswirkungen?
Tendenziell ja. Wenn Sie sich überlegen: Ein vierjähriges Kind hat ein Drittel seines Lebens Menschen mit Maske erlebt. Diese jungen Kinder konnten zum Beispiel die Vorstellung, was Mimik bedeutet, nur eingeschränkt weiterentwickeln. Ihnen fehlt an vielen Stellen im Prinzip ein ganzes Jahr. Die Bedeutung eines Jahres als Zeitraum ist für Kinder und Jugendliche wesentlich größer als für Erwachsene. Und je jünger die Kinder, desto wichtiger ist ein Jahr. Die Entwicklungsdefizite sind einfach da – und die schleppen wir jetzt mit. Ich bin selbst gespannt, gerade auch bei Schulkindern. In meinem Kollegenkreis haben wir festgestellt, dass Schulängste wieder zugenommen haben.
Wie sehr hat die Sozialkompetenz in dieser Zeit generell gelitten?
Kontakt wurde teilweise als etwas Gefährliches wahrgenommen. Es wurde lange vermittelt, um beispielsweise Großeltern zu schützen, dass menschlicher Kontakt etwas potenziell Gefährliches, etwas, was man nicht darf, ist. Dazu kommt die Komponente des Cybermobbings. Dadurch, dass zeitweise keinerlei echte, soziale Kontakte stattfinden konnten, ist das noch einmal vermehrt aufgetreten. Es gab viel mehr Fälle und somit auch eine Zunahme der Dringlichkeit, sich mit diesem Thema noch mehr auseinanderzusetzen, das ohnehin vorher schon wichtig war.
Hat sich das Mobbing also vom Schulhof ins Internet verlagert oder ist die Bereitschaft gestiegen?
Ich habe schon das Gefühl, dass die Bereitschaft gestiegen ist. Zudem ist es eine Zentrierung auf diesen digitalen Raum. Es gibt Studien, die besagen, dass Kinder und Jugendliche teilweise sechs bis acht Stunden am Tag vorm Rechner verbracht haben – und das unter der Woche. Vom Wochenende habe ich gar keine aktuellen Zahlen, zu vermuten sind hier noch deutlich längere Zeiten.
Sozialängste, Mobbing, Vereinsamung, Hilflosigkeit: Das alles hat natürlich starke Auswirkungen auf die Psyche. Nehmen auch psychische Erkrankungen zu?
Das wird sich in den nächsten Jahren zeigen. An dieser Stelle ist es so, dass Kinder und Jugendliche, die – ich nenn es jetzt mal so – bereits „Sollbruchstellen" hatten, die vielleicht ohne diese Krise, ohne Pandemie und ohne Lockdown nicht in Behandlung gekommen wären, jetzt therapeutische Hilfe suchen. Da liegen die Zahlen zwischen 40 und 60 Prozent mehr Nachfragen. Das kann ich auch aus meiner eigenen Praxis bestätigen. Es ist uferlos, und für mich ist es sehr belastend, nichts anbieten zu können. Das sind oft Kinder, bei denen die Kompensation sonst vielleicht irgendwie funktioniert hätte, aber deren „Sollbruchstellen" durch diese zusätzliche Belastung nun doch gebrochen sind. Ganz vorne ist dabei die depressive Symptomatik. Gerade über die Wintermonate, die oft sehr einsam vor den Rechnern verbracht wurden. Das andere, was ich eben bereits angesprochen habe, sind die Schulphobien. Kinder, die vorher keine Probleme hatten, zur Schule zu gehen, haben nun Probleme in diese Alltagsstrukturen mit sozialen Kontakten zurückzufinden. Beim ersten Lockdown gab es Kinder mit Schulängsten, denen es plötzlich gut ging, weil sie nicht mehr zur Schule mussten, aber das natürlich nur kurz. Jetzt werden es immer mehr, die nur schwer in die Struktur zurückfinden. Da muss ich viele Schulen loben, die sehr engagiert versuchen, Kinder wieder gut zu integrieren und Hilfen anzubieten.
Ganz platt gefragt: Steht uns in 20, 25 Jahren eine Generation depressiver Erwachsener mit Sozialängsten bevor?
Da ich eher „Hoffnungsneurotiker" bin, denke ich, dass durchaus genügend Resilienz da ist und sein wird, damit es nicht so kommt. Es ist für viele die erste wirklich große Krise, die man auf diese Art miterlebt. Ich gehe schon davon aus, dass da einiges noch aufgefangen werden kann. Ich würde es also nicht so schwarz sehen wollen, dass in 20 Jahren die „Generation Corona" psychisch geschädigt sein wird. Es ist ein Teil der Geschichte, und damit müssen wir lernen, umzugehen. Wir haben uns da auch weiterentwickelt – gerade wenn man sich den ersten und den zweiten Lockdown anschaut. Beim zweiten Lockdown hat sich rein organisatorisch schon vieles weiterentwickelt, gerade schulisch. Der Fokus auf Kinder und Jugendliche und was diese jetzt brauchen, ist endlich mehr im Blickpunkt. Sie sind unsere Zukunft und wurden lange kaum beachtet.
Kann so eine Krise auch eine Chance sein?
Auf jeden Fall. Ein positiver Aspekt war die Entschleunigung. Wenn ich höre oder sehe, dass jetzt so viele Menschen in den Wald gehen, die das vorher nicht getan haben. Familien, die viel mehr Zeit füreinander haben – was einerseits sehr belastend sein kann, andererseits aber auch noch mal ein familiäres Leben möglich macht. Ich weiß, dass ich im ersten Lockdown sehr verwundert war, was das Zusammenleben in Wohngruppen betraf: Ich hatte große Sorge, dass die Situation eskaliert, weil dort so viele Kinder „aufeinandersitzen". Das ist aber nicht passiert. Viele Kinder waren sehr entspannt. Jetzt, im zweiten, wurde es dann doch etwas quälend. Dennoch sind auch hier nicht alle Kinder ständig „ausgerastet". Daher hoffe ich, dass wir in den nächsten Jahren auch lernen können, was Positives stattgefunden hat und welche Entwicklung anderer Kompetenzen es gegeben hat.
Was würden Sie sich persönlich für die Zukunft wünschen?
Ich fände es gut, wenn man darauf schauen könnte, mehr in die Erhaltung und Stabilisierung gesundheitserhaltender Strukturen überzugehen. Weniger in diese Angst vor dem Sterben oder vor Erkrankung, sondern hin zu einer Steigerung von Gesundheitsförderung. Dass man aktiv mehr mit gesunder Ernährung und Bewegung arbeitet, als mit dem „Angst machen" – gerade für die Kinder. Das wäre für mich eine Option, die man mit der Erfahrung, die wir jetzt haben, als zusätzlichen Lösungsansatz nehmen könnte. Das gab es ja schon alles, aber ich hatte das Gefühl, dass in der Krise alles so überlastet war, dass diese Dinge aus dem Fokus geraten sind. Wenn man viel Stress hat, dann wird man einfach schneller krank. Daher sehe ich die Hinwendung zu einer Gesundheitsförderung als zukunftsweisend.