Jetzt soll alles ganz schnell gehen. Die von der Pandemie gebeutelten Schüler holen nach, was das Zeug hält. Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) hat dafür Milliarden Euro bereitgestellt.
Was sie nicht gelernt haben, sollen sie nachholen. Wo der Lehrplan nicht ganz abgearbeitet wurde, wird wie beim Nürnberger Trichter nachgefüllt. Kam die Klasse in Mathe nur bis zu den Logarithmen, muss jetzt die Wahrscheinlichkeitsrechnung nachgepaukt werden. Fehlt in Englisch das Past Perfect, kommt es eben auf den Nachholplan.
Nachhilfe, Aufholen, Förderunterricht – mit einem Milliardenprogramm sollen die tiefen Wissenslöcher, die die Pandemie hinterlassen hat, aufgefüllt werden. Das klingt gut, wenn Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) Anfang Mai ankündigt, ein schulisches Corona-Aufholpaket zu schnüren. Es wurde sogleich von der ehemaligen Familienministerin Franziska Giffey (SPD) durch ein ebenfalls eine Milliarde schweres Ferien- und Freizeitprogramm ergänzt. Giffey ging es dabei um die außerschulische Bildung, um Sport, gemeinsame Reisen, Wandertouren. Zusammengefasst: um ein „Generationen Empowerment".
Man müsse davon ausgehen, dass 20 bis 25 Prozent der Schüler deutliche Lernrückstände aufweisen, so Bildungsministerin Anja Karliczek. So ganz genau weiß es keiner: Mal ist von 800 Stunden pro Schüler die Rede, mal von einem halben Jahr. Das Corona-Aktionsprogramm soll erreichen, „dass die Kinder möglichst unbeschadet durch die Pandemie kommen". Starten soll es unmittelbar mit Beginn des kommenden Schuljahrs, also nach den Sommerferien. Nachhilfeangebote wie Volkshochschulen (VHS) werden eingebunden, pensionierte Lehrer reaktiviert, Lehramtsstudenten gewonnen. Irgendwie soll das Aufholpaket auch mit der außerschulischen Kinder- und Jugendarbeit verknüpft werden und vor allem die Familien unterstützen, die es besonders schwer haben.
Schulen müssen Angebote abstimmen
Große Versprechen! Bildung ist wichtig, der Lehrplan muss abgearbeitet, das fehlende Wissen gepaukt werden. Wer dafür verantwortlich ist, dass das alles umgesetzt wird, ist nicht ganz klar. Karliczek und ihr Ministerium auf jeden Fall nicht. Die Länder? Sie wollen jetzt erst einmal „Lernstände" erheben, damit gezielt nachgeholfen werden kann. Bildung ist Ländersache. Lernstandserhebungen kommen öfter vor, sie werden meist auf Papier geschrieben – digital eher nicht. Ein Indiz, dass das erst mal dauern kann.
Die Milliardeh für die Schulen werden natürlich nicht mit der Gießkanne verteilt, sondern jedes Land beantragt die entsprechenden Mittel. Dazu gehört der Nachweis, wofür sie verwendet werden sollen. Das wiederum obliegt den Schulen: Sie richten die Programme ein –
mit den VHS, mit den pensionierten Lehrern, mit den Lehramtsstudenten. Die Schulen müssen sich dafür mit ihrem Schulträger abstimmen – das sind meistens die Städte, die Kommunen, die Landkreise. Sie bestimmen alles, was die äußere Organisation der Schule betrifft. Eine Schule kann nicht einfach einen leeren Saal anmieten, um mit pensionierten Lehrern eine Nachhilfeklasse zu unterrichten.
Die Schulträger sind besonders vorsichtig, wenn es um die Kosten geht. Das beste Beispiel waren während der Pandemie die Luftreinigungsgeräte, für die der Staat Mittel zur Verfügung gestellt hatte. Doch den Schulen wurde die Anschaffung eines solchen Gerätes untersagt – warum? Weil die Schulträger die Folgekosten scheuten – was, wenn das Gerät kaputtgeht? Wenn es jemand unsachgemäß behandelt? Bildung ist ein „Mehrschichtbetrieb", wie die „Süddeutsche Zeitung" einmal schrieb. Unten die Schulen, eins drüber die Schulträger, dann die Länder mit ihrer Bildungshoheit, es folgen die Konferenz der Kultusminister und ganz oben das Bundesbildungsministerium. Auf jeder Ebene hat jemand was zu sagen. Am wenigsten das Bundesbildungsministerium – Bildung ist Ländersache, da achten die Kultusminister schon sehr genau darauf.
Das beweist auch das Scheitern des im August 2020 aufgelegten Programms für die Anschaffung mobiler Endgeräte, also Laptops, für rund 800.000 Lehrkräfte in Deutschland. Bis Mai 2021 wurde nur ein Bruchteil des Geldes abgerufen, die Laptops stehen sorgfältig verpackt in irgendwelchen Kellerräumen und Lagerhäusern. Auch die nächsten 500 Millionen Euro zur Finanzierung von IT, also für den Aufbau der digitalen Infrastruktur, zur Installation von schuleigenem WLAN oder zur Anschaffung digitaler Tafeln – sogenannter Smartboards – wurde bis Januar 2021 nicht abgerufen, weil noch Unterschriften von bestimmten Ländern fehlten.
Manche Schulleiter, denen das zu bunt wurde, preschten einfach vor, sammelten unter Eltern Geld für Luftreinigungsanlagen, besorgten aus der eigenen Schulkasse die Technik (in der Hoffnung, das Geld wieder zurückzubekommen, wenn das Projekt mal läuft). Aus dem Bildungsministerium im Saarland wird berichtet, dass Schulträger die Bestellungen auf eigenes Risiko tätigen mussten, „weil die genauen Förderbedingungen noch nicht abschließend geklärt waren. Ein derart risikobehaftetes Vorgehen ist für das Saarland in Hinblick auf die angespannte Haushaltslage vieler saarländischer Kommunen ausgeschieden". Ähnlich äußert sich das Kultusministerium in Sachsen. „Die Bedingungen für eine nachträgliche Refinanzierung waren lange Zeit völlig unklar". Das Bundesland rechnet damit, frühestens Mitte des Jahres Bestellungen für Dienstlaptops aufnehmen zu können.
Schulpolitik langfristig anlegen
Offenbar ist das Geld da, aber ein Langzeitkonzept, wie das durch Schulschließungen, Distanzunterricht und Quarantänemaßnahmen entstandene Lerndefizit auszugleichen sei, fehlt in der Praxis. So die Kritik von Heinz-Peter Meidinger, ehemaliger Schulleiter und Präsident des deutschen Lehrerverbands. Er schlägt vor, den Schülern ein freiwilliges Zusatzjahr anzubieten – und zwar in allen Bundesländern einheitlich.
„Das Bildungssystem", schreibt Meidinger in seinem Buch „Die 10 Todsünden der Schulpolitik," „ist ein hochkomplexes Gebilde, alles hängt mit allem zusammen, sowohl innerhalb des Schulsystems eines Landes als auch mit der Schulpolitik anderer Bundesländer." Jeder Eingriff habe direkte und indirekte Auswirkungen, auf die Wirtschaft, die Weiterbildungseinrichtungen, die Kommunen. Schulpolitik brauche einen langen Atem, wenn sie erfolgreich sein soll. Ein parlamentarisches Umfeld, in dem alles Planen und Regierungshandeln auf die Zeit von vier Jahren begrenzt ist, steht dem entgegen. Wirklich ändern lässt sich nur etwas über einen längeren Zeitraum. Nach überstandener Pandemie mit „Reformen", Prüfungen, neuen Unterrichtsformen anzufangen, hält er für falsch.
Auch von Schülerseite wird verlangt, erst einmal wieder die Schüler zusammenkommen zu lassen, den Klassenverband zu beleben und etwas gemeinsam zu unternehmen, so der Generalsekretär der Bundesschülerkonferenz Dario Schramm.
Doch gerade in Wahlkampfzeiten wollen Politiker mit kurzfristigen Erfolgen glänzen. Wenn sie vor den Kameras wieder ein Millionenprojekt ankündigen, sichert das immer eine große Medienresonanz. Doch dieser kurzatmige Aktionismus trägt zur Verbesserung der Bildungschancen zunächst einmal genau nichts bei. Die Versprechungen, die da gegeben werden, müssen ganz andere erfüllen als die Berliner Politiker. Manche Minister machen sich auf diese Weise zu „Ankündigungsministern". Bildungspolitik muss auf mehreren Ebenen gedacht werden – und nur wenn die harmonieren, ist sie erfolgreich.