Die Kandidatin Marine Le Pen will weg vom schrillen Extremisten-Image
Als Emmanuel Macron im Mai 2017 die Präsidentschaftswahl in Frankreich gewann, hatte er den Nimbus eines Systemsprengers. Er deklassierte die Kandidaten der langjährigen Volksparteien – Sozialisten und konservative Républicains –,
gründete die Bewegung „En Marche" und wurde als populärer Quereinsteiger in den Elysée-Palast getragen. Ein frisches Gesicht, ein Politiker neuen Typs, der jenseits des Rechts-Links-Spektrums das Land innenpolitisch reformieren und Europa einen Quantensprung der Integration bescheren wollte.
Wichtig hierbei: Macron errang in der Stichwahl gegen Marine Le Pen einen haushohen Sieg, weil die parteiübergreifende Front gegen Rechtsaußen hielt. Rechte und Linke sammelten sich hinter Macron, um Le Pen zu verhindern. In der Vergangenheit hat dieses Bollwerk immer funktioniert. Unabhängig von der Härte des Wahlkampfes hat sich die große Mehrheit der politischen Kräfte darauf verständigen können, im zweiten Wahlgang zur Unterstützung des „republikanischen" Anwärters aufzurufen, wenn diesem ein Rivale oder eine Rivalin aus dem rechtsextremen Lager gegenüberstand.
Dieser historische Schulterschluss ist bei der Präsidentschaftswahl im Frühjahr 2022 nicht mehr automatisch gegeben. Sowohl ranghohe Vertreter der Républicains als auch der linksradikale Spitzenkandidat Jean-Luc Mélenchon haben bereits signalisiert, dass sie im Falle eines erneuten Duells Macron – Le Pen keine Empfehlung für den Amtsinhaber aussprechen würden.
Hinzu kommt, dass die innenpolitische Strahlkraft Macrons deutlich verblasst ist. Der einstige Hoffnungsträger hat sich durch eine blindlings durchgepaukte Ökosteuer ab Herbst 2018 die Protestbewegung der „Gelbwesten" aufgehalst. Vor allem auf dem Land, wo viele auf das Auto angewiesen sind, stöhnten die Menschen unter den höheren Benzinpreisen. Der Präsident erschien plötzlich als abgehobener Regent, der das normale Leben nicht mehr im Blick hatte. Zudem gab es heftigen Widerstand gegen seine Arbeitsmarkt- und Rentenreform. Beide Vorhaben wollten mit ausufernden sozialen Leistungen und Privilegien aufräumen, an denen sich bislang so mancher Präsident die Zähne ausgebissen hatte.
Während Macrons Stern sank, arbeitete Le Pen an einer stärkeren Positionierung Richtung Mitte. Sie will weg vom schrillen Extremisten-Image. 2018 änderte sie den Parteinamen von Front National in Rassemblement National (RN) und setzte ihre Strategie der „Entteufelung" fort. So versuchte sie, den RN vom Erbe ihres offen rechtsextremen und antisemitischen Vaters Jean-Marie Le Pen („NS-Gaskammern sind ein Detail der Geschichte") zu lösen. Zwar bekennt sich die 52-Jährige nach wie vor zu einem Einwanderungsstopp. Die Forderung nach Frankreichs Austritt aus EU und Eurozone hat sie jedoch aus dem Programm gestrichen. Neuerdings verlangt sie sogar die Rückzahlung von Staatsschulden. Andernfalls drohe „der Vertrauensverlust in Frankreichs Wort".
Das Bemühen um mehr Mäßigung in Stil und Substanz scheint sich auszuzahlen. Nach neueren Umfragen sehen 42 Prozent der Franzosen den RN nicht mehr als Gefahr für die Demokratie. „Le Pen ist wirklich Teil der politischen Landschaft des Landes geworden", urteilt der Meinungsforscher Emmanuel Rivière. Bei den 25- bis 34-Jährigen stehe der RN sogar auf Platz eins. „Doch ihre Fähigkeit, über die eigenen Parteigrenzen hinaus Partner zu finden, bleibt relativ beschränkt", so Rivière.
Der RN und Macrons mittlerweile unter „La République en Marche" firmierende Partei repräsentieren jeweils rund ein Viertel der Wählerschaft. Le Pen hat zwar an Zustimmung gewonnen, doch sie ist isoliert. Noch immer lehnt eine Mehrheit der Franzosen eine Rechtsextreme an der Staatsspitze ab.
Nach den gegenwärtigen Kräfteverhältnissen könnte es 2022 abermals zu einer Stichwahl zwischen Macron und Le Pen kommen. Es wäre eine Auseinandersetzung zwischen einer proeuropäischen und einer nationalistischen Weltsicht. Vorteil für den Amtsinhaber: Ab Januar hat Frankreich die EU-Ratspräsidentschaft inne. Für Macron eine Gelegenheit, sich als Schrittmacher der Europäischen Union zu profilieren. Sein größtes Risiko: Sollte sich in der Bevölkerung tiefe Enttäuschung über seine Bilanz breitmachen, droht eine hohe Wahlenthaltung. Das wiederum würde Le Pen nützen.