Die Unverpackt-Bewegung wächst hierzulande, längst ist sie ein größerer Wirtschaftsakteur. Das ist die eine Seite des Einzelhandels. Doch der Vorsitzende des Unverpackt-Verbandes, Gregor Witt, sagt, dass immer noch zu viele Lebensmittel in Primärrohstoffen verpackt werden – dafür könnten auch sogenannte Rezyklate verwendet werden.
Herr Witt, Sie leben in Köln und sind Vater von vier Kindern. Wie schaffen Sie es, verpackungsfrei einzukaufen und sich selbst und Ihre Familie zu ernähren?
(lacht) Wer sich auf das Unverpackt-Einkaufen einlässt und sich an das Konzept gewöhnt hat, der wird aus meiner Sicht ein genauso glückliches Leben führen können, wie jemand, der im Supermarkt einkaufen geht.
Ein Unverpackt-Laden bietet natürlich nicht das Convenience-Angebot eines klassischen Supermarktes. Das Kerngeschäft jedes Unverpackt-Ladens ist ein breites Sortiment an trockenen Lebensmitteln – angefangen von Müsli über Reis, Nudeln, Hülsenfrüchten bis hin zu Mehlen. Dazu kommen je nach Ladensortiment auch exotischere Lebensmittel wie etwa Flohsamen und Chiasamen. Immer mehr Läden bieten auch saisonales Obst und Gemüse an. Viele Läden verkaufen auch Käse, Backwaren und Molkereiprodukte. Wem qualitativ hochwertige Lebensmittel wichtig sind, der wird im Unverpackt-Laden alles finden, was er braucht.
Man muss sich aber mehr Zeit nehmen…
Der Verkaufsprozess dauert länger – das ist richtig. Da gibt es noch Luft nach oben, was die technische Entwicklung angeht. Auf Seiten des Verbandes arbeiten wir daran, dass der Einkaufsprozess schneller abläuft. Wer allerdings das mit einkalkuliert und sich darauf einlässt, der bekommt das schon hin – auch ein Elternteil mit vier Kindern.
Sie und Ihre Frau sind Gesellschafter und Inhaber des Unverpackt-Ladens Tante Olga in Köln und betreiben den Onlineshop zerowasteladen.de. Was sind das für Kunden, die bei Ihnen einkaufen?
Grundsätzlich sind das Kunden, die Teil einer Veränderung sein möchten. Jemand, dem Plastik und Verpackung egal sind, wird seinen Fuß nicht in einen Unverpackt-Laden setzen.
Mit Blick auf den Verkaufsprozess sind das eher geduldigere Menschen, die die ruhigere Ladenatmosphäre genießen. In den Unverpackt-Läden ist die Nähe zu den Lebensmitteln auch eine ganz andere. Frauen wie auch Männer gehören zur Kundenklientel – das hält sich ziemlich die Waage. Das Gros der Menschen ist im Alter zwischen 35 und 50 Jahren. Sowohl Studenten als auch Familien mit ihren Kindern kaufen unverpackt ein. Gerade Kinder zeigen große Freude am eigenen Abfüllen.
Trotz der Pandemie haben 2020 deutschlandweit 70 Unverpackt-Läden eröffnet. Inwieweit können Sie feststellen, dass mittlerweile viele in der Bevölkerung das Laden-Konzept angenommen haben?
Wir zählen mittlerweile 380 Unverpackt-Läden in Deutschland, darüber hinaus sind 240 Läden geplant. Wenn wir uns vor Augen führen, dass ungefähr 80 Millionen Menschen in Deutschland leben und entsprechend viele Supermärkte im Gesamten, dann sind wir vergleichsweise klein aufgestellt. Dennoch finden Sie inzwischen in jedem großen Ballungsgebiet und in diversen kleineren Ortschaften einen Unverpackt-Laden. Vor allem ist das Konzept auf politischer Ebene angekommen. Ich bin im Unverpackt-Verband für Politik und Forschung zuständig und bekomme immer wieder Einladungen unter anderem von verschiedenen Bundesministerien. Weil wir uns der Abfallvermeidung verschrieben haben, werden wir auch immer wieder als ein Vorzeige-Projekt dargestellt. Wir sind durchaus in der Gesellschaft angekommen, jedoch in puncto Nachfrage noch nicht vollständig.
Bedeutet eine größer werdende Unverpackt-Bewegung, dass Sie als Verband, als Wirtschaftsakteur mehr Gehör in der Politik finden und zukünftig stärkere gesellschaftliche Verantwortung übernehmen?
Ja, auf jeden Fall. Wir hatten im Februar die letzte Mitgliederversammlung und einen neuen Vorstand gewählt. Danach haben wir uns als Verband umstrukturiert und neue Schwerpunkte festgelegt. Ein großer Schwerpunkt ist Politik und Lobbyarbeit. Uns findet man mittlerweile im Lobbyregister. Wir haben zentrale Forderungen, die wir als Verband platzieren wollen. Wir sind angetreten, um Veränderungen herbeizuführen. Das machen wir zuerst natürlich für uns, indem wir Läden anbieten und optimieren, aber diese Forderung wollen wir auch an die Politik richten.
2019 wurden pro Kopf 72 Kilogramm Verpackungsmüll eingesammelt – vier Kilo mehr als 2018. Wie sollte die Politik diese Menge an Verpackungsmüll auf Null runterbringen?
Es gibt politische Rahmenbedingungen, die gesetzt werden können. Als EU-Mitgliedsstaat unterliegt Deutschland dem Abfallvermeidungsprogramm der Europäischen Union. Zuletzt hat das Europäische Parlament zum Beispiel das Verkaufsverbot von Einwegbesteck, Wattestäbchen, Strohhalmen und Rührstäbchen aus Plastik beschlossen. Demzufolge müssen ab Juli im To-go-Bereich Einwegverpackungen wegfallen. Wir haben bereits diverse Forderungen zur Änderung des Verpackungsregisters eingebracht. Eine unserer zentralsten Forderungen ist jedoch, dass endlich die rechtlichen und strukturellen Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass Lebensmittel in Rezyklate verpackt werden können.
Was sind Rezyklate?
Rezyklate sind das Ergebnis des Recyclings, es sind sogenannte Sekundärrohstoffe. Lebensmittel werden heute jedoch immer noch nahezu zu 100 Prozent in Primärrohstoffen verpackt.
Die Vorstellung, dass das recycelte Materialien sind, ist schlicht falsch. Wir gehen davon aus, dass Verpackungen immer notwendig sein werden, wenn sich Unverpackt nicht so durchsetzt wie wir uns das erhoffen. Einmal davon abgesehen, dass in den Unverpackt-Läden auch Verpackungsmaterial anfällt. Daher ist aus unserer Sicht extrem wichtig, dass Rezyklate als Ergebnis der Kreislaufwirtschaft zur Verpackung von Lebensmitteln benutzt werden dürfen.
Das ist noch gar nicht so weit?
Nein, das ist noch gar nicht der Fall. Die einzigen Rezyklate, die im Augenblick verarbeitet werden, machen von den insgesamt drei Millionen Tonnen Verpackungsmüll, die 2019 bei den Bundesbürgern eingesammelt wurden, einen verschwindend geringen Anteil aus. Nahezu 100 Prozent der Lebensmittelverpackungen bestehen aus Primärrohstoffen.
Aus welchem Material können Rezyklate hergestellt werden?
Stellen Sie sich vor, Sie werfen eine Käseverpackung aus Plastik in die gelbe Tonne. Der Recycler stellt daraus Granulat her. Wenn aus diesem Rezyklat wieder eine Käseverpackung gemacht werden könnte, wäre das wunderbar. So weit sind wir allerdings noch lange nicht. Zum einen fehlt die Zulassung für Lebensmittelverpackungen, weil in den Sekundärrohstoffen giftige Stoffe enthalten sind. Und leider ist das Herstellungsverfahren immer noch nicht ausgereift. Das heißt: Sie werden niemals einen Sekundärrohstoff bekommen, der die gleiche Qualität wie ein Primärrohstoff hat. Sekundärrohstoffe eignen sich bestenfalls für eine Parkbank, aber für eine hochwertige Folie sind sie völlig unbrauchbar. Es gibt hier noch ein System-Problem. Zumindest im Lebensmittelbereich sind wir noch weit entfernt von einer Kreislaufwirtschaft.
Immer mehr Supermärkte und Drogerieketten bieten unverpackte Ware an – allerdings meist in Pilotprojekten und Testversuchen. Wie bewerten Sie diesen zaghaften Unverpackt-Trend im Einzelhandel?
Grundsätzlich begrüßen wir natürlich, dass Unverpackt überall möglich ist. Aber wir müssen natürlich auch schauen, wo wir da bleiben. Deshalb sehe ich das zwiegespalten. Was wir nicht gutheißen, ist, wenn der Einzelhandel mit Unverpackt wirbt, aber sein Versprechen nicht einhält. Das ist ein Strukturproblem des klassischen Supermarktes: Die Lebensmittel werden nicht wie bei uns in Großgebinden gelagert. Im klassischen Supermarkt ersetzt das Regal das Lager. Da stellt sich die berechtigte Frage: Wie wird die Unverpackt-Ware geliefert? Das muss jeder für sich prüfen. Es gibt einen großen Lieferanten, der für alle klassischen Supermärkte ein Systempartner für Unverpackt ist. Da wissen wir, wie die Waren verpackt sind. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber da muss noch viel optimiert werden. Wenn die aufgehängten Spender im Einzelhandel mit kleineren Kunststoffverpackungen gefüllt werden, ist das bedauerlich und wird der Sache nicht gerecht. So berichten wir bei Treffen mit Vertretern großer Handelsketten von unseren Lösungsansätzen, damit sich Verbraucher sicher sein können, echte unverpackte Lebensmittel zu kaufen. Daher fordern wir, dass eine Zertifizierung für Unverpackt kommen muss. So kann sich der Verbraucher sicher sein, dass, wenn er zum Beispiel unverpackte Kichererbsen kauft, dass die im Hintergrund Müll-optimiert ankommen.
Gibt es Länder, die weiter sind als die Unverpackt-Bewegung und uns einiges in Sachen Innovation und Müllvermeidung voraushaben?
Frankreich liegt deutlich weiter vorn mit Blick auf die Angebotsvielfalt von Unverpackt-Waren. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man in Frankreich in fast jedem Supermarkt und Bioladen eine Unverpackt-Abteilung findet. Auch in den USA, in Kanada und Australien ist das Angebot sehr groß. Mir ist jedoch keine Bewegung in anderen Ländern bekannt, die sich wie unsere seit April mit einem lang angelegten Forschungsprojekt, von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt mit rund 291.000 Euro unterstützt, der Abfallreduzierung der gesamten Lieferkette ernsthaft widmet.
Wie stehen die Chancen, dass Sie mit dem Forschungsprojekt „Unverpackt 2.0" zusammen mit der Hochschule für nachhaltige Entwicklung Eberswalde die „Verpackungsvision 2025" erreichen und umsetzen?
Wir haben schon in den letzten Jahren gute Ergebnisse erzielt. Der erste Punkt in der Verpackungsvision beinhaltet den Aspekt, dass Einwegverpackungen überall dort durch Mehrwegverpackungen ersetzt werden sollen, wo es ökologisch vorteilhaft ist. Beispielsweise ist es ökologisch sinnvoll, wenn der Bäcker die fertig gebackenen Kekse in ein Mehrweggefäß packt. Das Mehrweggefäß geht zum Unverpackt-Laden, wo die Spender mit Keksen befüllt werden. Wenn das Gefäß leer ist, geht es zurück zum Bäcker, der es reinigt und neue Kekse abfüllt. Das wäre ökologisch vorteilhaft. Allerdings wäre es nicht sinnvoll, den Transport von Cashewnüssen aus Burkina Faso, die zum Schutz vor Schädlingen standardmäßig in 22,5-Kilo-Kunststoffverpackungen eingeschweißt sind, auf Mehrwegsystem umzustellen – da ist einfach die Entfernung zu groß. An dieser Stelle würde man besser substituieren und auf politischer Ebene daran arbeiten, dass Cashewnüsse aus Burkina Faso in den nächsten fünf Jahren mit Rezyklaten verpackt werden. In diesen Prozessen haben wir bereits einige Erfolge erzielt.
Inwiefern machen sich die Erfolge in den Läden bemerkbar?
Wenn Sie vor drei Jahren das Lager eines Unverpackt-Ladens angeschaut hätten und heute noch einmal, würden Sie feststellen, dass da viel mehr Mehrpackbehälter als seinerzeit stehen. Wir werden die bisherigen Ergebnisse nach und nach auf andere Sortimentsbereiche ausweiten und eine für alle geeignete Standard-Mehrwegverpackung finden. Hierfür werden wir im Forschungsprojekt entsprechend mit Herstellern von solchen Systemen sprechen müssen und im besten Fall mit Unterstützung des Fraunhofer-Instituts für Verfahrenstechnik und Verpackung genormte Mehrwegsysteme aus Sekundärrohstoffen konzipieren. Wir sind sehr zuversichtlich, dass es uns gelingt, bis 2025 echte Lösungen zu präsentieren.
Wie gelingt es, dass alle wichtigen Akteure – vom Erzeuger bis zum Logistikunternehmen – an einem Strang ziehen und Verpackungsmüll vermeiden?
Es gibt glücklicherweise auch in der Verpackungsindustrie Menschen, die etwas bewegen wollen. Da muss man natürlich die Richtigen finden, die bereit sind, diesen Weg zu gehen. Wir kooperieren mit einem Großhändler aus Nürnberg, der mit uns viel experimentiert und auch schon viel Geld in den Sand gesetzt hat. Doch der wird nicht müde, immer wieder Neues auszuprobieren. Auf Akteure wie diese sind wir angewiesen, das beschreiben wir auch in der Präambel unserer Verpackungsvision. Wir sind zum Glück nicht alleine auf der Welt, und abhängig von denen, die mitziehen.