Nach ihrem Formel-1-„Stadttheater" in den engen Gassen von Monaco und in den Schluchten der Altstadt von Baku in Aserbaidschan wird an diesem Sonntag (15 Uhr/Sky) die WM wieder auf einer „normalen" Strecke auf dem flachen Land in Le Castellet in Südfrankreich fortgesetzt.
Der Aserbaidschan-Grand Prix in Baku, 28 Meter unter dem Meeresspiegel ausgefahren, hat am Kaspischen Meer hohe Wellen geschlagen. Mercedes-Überflieger Lewis Hamilton ist „untergegangen" (Platz 15), Sebastian Vettel im Aston Martin überraschend und sensationell auf Platz zwei „aufgetaucht" und Pierre Gasly im Alpha Tauri auf Rang drei „gesegelt". Der Sieger aber hieß Sergio Perez im Red Bull.
Am Ende eines dramatischen, chaotischen, wahnwitzigen Formel-1-Rennens durch Aserbaidschans Haupt- und Altstadt Baku mit mysteriösen Reifenplatzern und Safty-Car-Phasen stand Mercedes-Sportchef Toto Wolff wie gewohnt redselig, eloquent, ohne Umschweife schnörkellos vor dem Sky-Mikrofon, fuhr sich etwas erregt durch seinen pechschwarzen Haarschmuck – und brachte seine Aussagen ohne „Wenn und Aber" auf den Punk. „Es ist zum Haareraufen, Baku war ein hundsmiserables Rennen von uns. Monaco und Baku waren einfach nur katastrophal. Wir hatten weder in Monaco noch hier in Baku ein Auto, das konkurrenzfähig war. Punkt." So die schonungslose Analyse des „bösen" Wolff. Torger Christian, so sein offizieller Vorname, Wolff, wäre aber nicht der „gute Wolf(f)", wenn er den negativen Erkenntnissen keine positive Vorstellung abgewinnen könnte. „Ich habe keinen Zweifel daran, dass dieses Team, das sehr stark und im Moment auch sehr sauer ist, diesen Ärger in eine positive Form umwandeln und zurückschlagen wird", so der hoffnungsvolle, allgewaltige „Sterne"-Sportchef. Dann wird sich der smarte Wiener und Schlawiner (pfiffiger Mensch laut Duden) auch künftig noch ohne graue Haare durch seinen noch pechschwarzen Kopfschmuck „raufen" können.
Wolffs schonungslose Analyse
Was aber hat den 49-jährigen Österreicher in Baku aus seiner Erfolgsspur gebracht? Sein Starpilot Lewis Hamilton hatte zwei Runden vor Rennende nach einem erneuten stehenden Start (Re-Start) den Sieg vergeigt. Der siebenmalige Weltmeister katapultierte sich von Platz zwei an Red Bull-Pilot Sergio Perez auf Platz eins vorbei. Steigt vor der ersten Kurve zu spät in die Eisen und schießt geradeaus in den Notausgang. Der Mexikaner „Checo" Perez sagt „Gracias" und gewinnt völlig unerwartet seinen zweiten Grand Prix. Hinter dem Red- Bull-Piloten schlüpft Vettel auf Platz zwei durch. Dahinter lieferten sich der Franzose Gasly und Ferrari-Juwel Charles Leclerc einen heißen Kampf um Rang drei. Gasly machte sich in seinem Alpha Tauri ziemlich breit und verteidigte sich wie ein Löwe vor Leclerc.
Der Monegasse hat beim Rennstart zum neunten Mal von der Poleposition (erster Startplatz) ein F1-Rennen aufgenommen, wurde dann aber durch Überholmanöver bis auf Rang vier durchgereicht.
Kommen wir zurück zu Lewis Hamilton und seinem „Verbremser". „Das ist einer der härtesten Momente, die ich seit einiger Zeit durchgemacht habe. Als Perez mir nach dem Neustart (Anm. d. Red. 49. von 51 Runden) zwei Runden vor Schluss näherkam, drehte ich am Lenkrad, berührte dabei einen Schalter, der die Bremsbalance verstellt, und diese Aktion hat meinen Verbremser ausgelöst", beschreibt der Titelverteidiger sein Malheur. Mit stehendem Rad verpasste Hamilton Kurve eins und schoss in die Auslaufzone. Wegen der Mauer am Kurvenausgang musste er umdrehen, um zurück auf die Strecke zu kommen. In dieser Zeit fuhr das gesamte noch verbliebene Feld an ihm vorbei. Den Sieg und 25 WM-Punkte vor Augen – doch daraus ist nix geworden. Eine Nullnummer auch für Mercedes’ Nummer-zwei-Fahrer Valtteri Bottas, der nur Zwölfter wurde.
Für Hamilton war der Baku-Sonntagnachmittag noch umso tragischer, da Herausforderer Max Verstappen dem Titelverteidiger den Sieg quasi auf dem Silbertablett serviert hatte. Der Red Bull-Chefpilot, als Dritter hinter Leclerc und Hamilton ins (Haupt)-Rennen gestartet, kämpft sich an seinen Rivalen vorbei, hat alle und alles problemlos bis vier Runden vor Rennende unter Kontrolle, und „dann macht es plötzlich peng und Max war weg", so die erste Reaktion von Red Bull-Teamchef Christian Horner. Der „stramme Max" verlor den sicher geglaubten dritten Saisonsieg bei Höchstgeschwindigkeit von rund 300 km/h. Auf der Start- und Zielgeraden ging der linke Hinterreifen hoch, der „fliegende" Holländer ist als hilfloser Passagier in die Streckenbegrenzung eingeschlagen. „Das kam ohne jede Vorwarnung", so Verstappens Boss Horner.
Verstappen ist realistisch
15 Runden zuvor hatte es Vettels Teamkollege Lance Stroll erwischt. Jenseits von 300 km/h platzt am Aston Martin des Kanadiers ebenfalls der linke Hinterreifen, Stroll kracht erst frontal, dann seitlich in die Mauer. Aber die Unfallpiloten entstiegen ihren Wracks schmerzfrei.
Verstappen ärgerte sich aber maßlos über seinen Reifenschaden. Zunächst fluchte er am Funk, beim Ausschälen aus seinem „Bullen"-Boliden schleuderte er das Lenkrad in die Gegend und verpasste dem linken Hinterreifen noch einen vehementen Tritt. Verstappens Trostpflaster: Da auch sein Rivale und Titelverteidiger Hamilton nach dessen Brems-Bock leer ausging, behielt der 23-jährige „stramme Max" seine WM-Führung (105:104) vor Hamilton. Er ist sich aber auch bewusst: „Wenn wieder die normalen Strecken kommen wie jetzt in Le Castellet, dann wird Mercedes wieder vorne sein, es wird jedenfalls ganz knapp werden in dieser Saison." Durch den Sieg seines seit dieser Saison neuen Stallkollegen Perez führt Red Bull die Konstrukteurs-Wertung mit 26 Zählern Vorsprung vor dem Mercedes-Rennstall an (174:148).
Einer, der in dem Chaos von Baku kühlen Kopf behielt, war Sebastian Vettel. Von den Reifenplatzern und Fehlern der Konkurrenz erbte er seinen Podiumsplatz genauso wie Sieger Perez und der Franzose Gasly. Vettel pirschte sich in seinem Aston Martin mit einer cleveren Strategie und dank konstanter Runden von Startplatz elf nach vorne. Platz zwei in Baku war nach Rang fünf in Monaco eine zweite Auferstehung. Baku war Vettels erster Podestbesuch seit dem Türkei-Grand Prix 2020 (15. November 2020) oder nach 203 Tagen. Nach Monaten in der Talsohle des Seins durfte der viermalige Weltmeister (2010 – 2013) wieder im Konzert der Großen aufgeigen. Bei dem Hessen hing nach dem Rennen in Baku der „Himmel voller Geigen". Während Max Verstappen völlig „bedient" war, schwebte Vettel nach eigenen Aussagen „auf Wolke sieben" und „ich war völlig aus dem Häuschen." Vettel offenbarte eine mehr oder weniger ernst gemeinte Aussage – oder auch Ansage. Nach der Poleposition seines ehemaligen Ferrari-Kollegen Leclerc kündigte er dem jungen „Roten Baron" an: „Er soll am Renntag in den Rückspiegel schauen, denn ich komme", verriet sein Ex-Rivale bei Sky. Der Ferrari-Pilot muss diese Vettel-Bemerkung für einen Scherz gehalten haben – was auch so gemeint war. Doch dann wurde der bisher zweimalige Grand-Prix-Sieger in Rot von seinem zehn Jahre älteren und mit einer Erfahrung von einem F1-Jahrzent von seinem „Übervater" überrascht. Dank Vettels fahrerische Klasse ging’s von Startplatz elf als Zweiter aufs Podium, dabei ließ der Aston-Martin-Pilot seinen Ex-Teamrivalen zwei Plätze hinter sich.
Vettel hat Vertrauen
Vettel wäre auch schon mit Platz vier zufrieden gewesen, sagte der Hesse bei Sky und richtete den Blick nach vorne: „Ich hoffe, wir können dieses Momentum mitnehmen. Das Vertrauen ins Auto ist da, das ist ein gutes Zeichen. Wir verstehen das Auto immer besser. Insgesamt sind wir auf dem richtigen Weg. Ich hoffe, dass wir jetzt regelmäßig in die Punkte fahren können." Einem „grünen" Vettel (im grünen Rennanzug) in der Monaco-/Baku-Form sind WM-Punkte ganz gewiss zuzutrauen – im Gegensatz zu dem zweiten deutschen F1-Piloten, Mick Schumacher. Der Pilot des US-Rennstalls Haas fuhr mit seinem unterlegenen Boliden mit Rang 13 nicht nur sein bisher bestes F1-Ergebnis ein. Der 23-Jährige ließ erneut seinen russischen Stallrivalen Nikita Mazepin (14.) hinter sich und – man höre und staune – auch Titelverteidiger Hamilton. Lassen wir auch noch Überraschungssieger Sergio Perez zu Wort kommen: „Ich bin soooooo happy, das Rennen war total verrückt. Es tut mir total leid für Max, der war großartig bis zu seinem explosiven Reifenplatzer. Wir hatten einen Doppelsieg vor Augen."
Ob dieses Selbstvertrauen sich auch an diesem Sonntag in Le Castellet in Südfrankreich bewährt? Die 5,842 Kilometer lange Rennstrecke liegt auf der Hochebene in Südfrankreich zwischen Toulon und Marseille. Seit 2018 hat die Strecke ihren Platz im F1-Kalender. Zehn Jahre zuvor, 2008, fand das Rennen noch in Magny-Cours statt, mitten in der Provinz, im Nirgendwo zwischen Paris und Lyon, mit mühseligen Anfahrtswegen, sodass dem Rennen kaum jemand nachtrauert. Dass die Franzosen es geschafft haben, ihren Grand Prix zurückzuholen und das gleich mit einem Fünf-Jahres-Vertrag, das wirkt in der gegenwärtigen Situation schon wie ein kleines Wunder.